Im vergangenen Jahr veröffentlichte die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer einen schmalen, leisen Roman über ihre Großmutter und die Familie mütterlicherseits. Die Bagage erzählte knapp, sparsam, aber sehr poetisch und einfühlsam vom Leben in einem abgeschiedenen Dorf des Bregenzer Waldes zu Zeiten des Ersten Weltkrieges. Das Buch erfuhr ein großes, sehr positives Medienecho und wurde zu einem wahren Publikumserfolg und Verkaufsschlager. Bis heute kann ich nicht verstehen, warum es noch nicht einmal auf der Longlist des Deutschen Buchpreises auftauchte. Ein Versäumnis, das man hoffentlich in diesem Jahr nicht noch einmal wiederholt. Denn Monika Helfer hat nun mit Vati ein weiteres persönliches Familienbuch nachgeschoben. Es handelt, der Titel verrät es, von ihrem Vater.
Josef Helfer wuchs in denkbar schwierigen Verhältnissen auf. Seine Mutter lebte als Magd im Salzburger Land und wurde vom Bauern geschwängert. Zwar durfte sie am Hof bleiben, der Sohn wurde aber nie anerkannt. Wie schwierig das Leben als alleinerziehende Magd damals war, kann man sich vorstellen. Josef selbst hatte Glück. Er war ein aufgewecktes Kind und fiel dem Vater eines Klassenkameraden auf, der im Ort Bauunternehmer war und eine große Bibliothek besaß. Dort keimte Josefs große Liebe zu den Büchern. Und zwar nicht nur zur Literatur, sondern konkret zu den Büchern als Gegenstände. Ihr Geruch, die Glätte der Seiten, die Einbände.
Eine vom Krieg beendete Jugend
Vom Ortspfarrer empfohlen, besuchte Josef das Gymnasium und wohnte in einem katholischen Schülerheim. Das muss für ihn eine gute Zeit gewesen sein. Kurz vor der Matura beendete der Krieg allerdings dieses Leben. Josef musste an die Front. 1945 kam er tief traumatisiert und körperlich versehrt zurück – in Russland war ihm ein Bein abgefroren, das amputiert werden musste. Im Lazarett lernte er Grete Moosbrugger kennen und nahm ihren (!) Heiratsantrag an.
Grete Moosbrugger kennen wir aus Monika Helfers Bagage. Sie ist das kleine Mädchen, das von seinem Vater niemals anerkannt wurde, da er dachte, es sei ein „Kuckuckskind“. Grete Moosbrugger ist Monika Helfers Mutter. Zwei Ausgestoßene treffen da also am Ende des Krieges aufeinander, zwei seelisch Versehrte. Und doch gelingt ihnen ein gewisses Glück. Der Vater wird Verwalter im Kriegsopfererholungsheim auf der Tschengla in Vorarlberg. Gretel, Monika und später Richard und Renate werden geboren. Monika Helfer schreibt mehrfach von der Tschengla als „Paradies“ auf 1200m Höhe. Eine freie, abenteuerliche Kindheit muss das gewesen sein. Auch wenn die Eltern immer ein wenig abwesend wirken. Aber es gibt die Geschwister – besonders mit Gretel ist Monika sehr eng – die vielen Gäste, die weitverzweigte, recht muntere Verwandtschaft (die wir teils schon aus der Bagage kennen) und die großartige Natur des Hochplateaus. Durch das Vermächtnis eines Professors, der sich für die gute Unterbringung seines Sohns bedanken wollte, kommt auch eine stattliche Bibliothek ins Erholungsheim. Das wird Josefs und auch Monikas großes Glück.
Aber auch das Unglück ist immer in der Nähe. Das Erholungsheim soll Ende der 1950er Jahre in ein Hotel umgewandelt werden, durch ein tragisches Missverständnis verliert der Vater fast das Leben, die Mutter erkrankt an Krebs.
Intensiver Text über den Vater
Monika Helfer erzählt auch in Vati so, wie sie es in Die Bagage getan hat. Unsentimental, ruhig, dicht. Sprachlich bleibt sie eher spröde und lakonisch, was die Intensität des Erzählten aber eher noch erhöht. Die Autorin arbeitet mit Zeitsprüngen, hüpft immer wieder auch in die Gegenwart, reflektiert ihr Erinnern und ihr Schreiben, schweift mitunter in die jüngere Vergangenheit, vor allem zu dem für sie schmerzhaftesten Punkt, dem frühen Unfalltod ihrer Tochter Paula. Entstanden ist daraus ein wiederum sehr intensiver Text, der Trauer und Leichtigkeit vereint und voller Zärtlichkeit und Liebe ist. Auch wenn sie nicht verheimlicht, dass ihr der Vater zeitlebens fremd geblieben ist. Am nahesten kam sie ihm wohl bei den Büchern. Sonst herrschte oft Sprachlosigkeit zwischen ihnen.
So ist auch die Überraschung groß, als sie ihn einmal so ganz anders erlebt. Damit beginnt dieses wunderbare kleine Buch. Monika Helfer besucht mit ihrem Vati die Schwester Renate in Berlin. Der Zug ist stark verspätet, der Speisewagen geschlossen und weil so spät nichts mehr geöffnet ist, landen die drei in einer Schwulenkneipe. Wie große ist das Erstaunen der Schwestern als der oft so sprachlose, abweisende Mann dort regelrecht aufblüht und sich von den Kneipenbesuchern regelrecht hochleben lässt.
„(…)unser Vater, der so grau aussah, eben wie ein Beamter, der er ja auch war, obendrein ein Finanzbeamter, unser Vater sei ein bunter Mann in Wahrheit.“
Es ist schwer, selbst die nächsten Menschen wirklich zu kennen. Aber, so endet das Buch,
„Wir alle haben uns sehr bemüht.“
Meine Rezension zur „Bagage“
BeitragsFoto: Sammlung Risch-Lau, Vorarlberger Landesbibliothek“, (CC BY 4.0)
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Monika Helfer – Vati
Hanser Verlag Januar 2021, fester Einband, 176 Seiten, 20,00 €