2017 erschien Das Debüt des britischen Autors Barney Norris: Hier treffen sich fünf Flüsse. Mich hatte die multiperspektivische Erzählung über fünf Menschen rund um das alte Städtchen Salisbury sehr für sich eingenommen. Es war klar, dass ich den nächsten Roman des britischen Autors auch lesen möchte. Diesmal verblüfft Barney Norris seine Leser:innen mit Die Jahre ohne nun ganz gehörig.
Die Geschichte beginnt ruhig mit dem Monolog einer älteren Frau. Sie erzählt von einem halbwegs gescheiterten Leben. Zumindest ihre Träume sind gescheitert. Denn als junge Frau gelang es ihr, ihrer kleinstädtischen Heimat an die Open University und nach London zu entkommen. Pläne für ein Buchprojekt, das als eine Art Enzyklopädie all die Dinge benennt, für die es sich zu leben lohnt, werden allerdings nie verwirklicht.
„Ich wollte etwas für Menschen tun, die vergessen haben, dass es auf der Welt, auch wenn sie ein furchtbarer und schrecklicher Ort zum Leben ist, von Dingen wimmelt, an die zu erinnern sich lohnt.“
Verluste
Man spürt nach nur wenigen Sätzen, dass die Ich-Erzählerin von einem heftigen Lebensüberdruss und einer Depression geplagt wird. Das Schöne, für das sich zu leben lohnt, findet sie selbst in ihrem liebevoll umhegten Garten. Menschen spielen in ihrem Alltag kaum eine Rolle. Ihre Geschichte ist geprägt von Verlusterfahrungen. Da ist als erste die des eines Tages verschwundenen Vaters. Wohin er verschwunden ist, ob er überhaupt noch lebt, erfahren sie und ihre Mutter nicht. Angedeutet wird zumindest, dass auch bei ihm eine depressive Veranlagung bestanden haben könnte. Den zweiten großen Verlust erlitt sie, als ihr Mann sie eines Tages verließ, so wie der Vater plötzlich verschwand.
„Beinahe siebzig Jahre voller Träume, die kamen und gingen, immer weitere Geburtstage, die sich kriechend nähern, während ich unaufhaltsam zu der alten Frau werde, die zu werden ich niemals gedacht hatte.“
Seitdem hat sie sich mit unterschiedlichen Jobs durchgeschlagen, zuletzt an der Infotheke eines Supermarktes. Nun hat sie das Rentenalter erreicht, pflegt ihren Garten und fährt regelmäßig zu ihren Therapiesitzungen ins Green Lane Hospital. Auf einer dieser Fahrten macht sie Halt an einer Hotelbar. Wir haben uns in der melancholischen Erzählung einer alten Frau über ihre geplatzten Träume und enttäuschten Hoffnungen eingerichtet und ahnen was nun kommt – der Klappentext verrät es -: Sie trifft einen älteren Herrn und die beiden kommen ins Gespräch.
Überraschende Wendung
Mit der Geschichte des Mannes rüttelt Barney Norris die Leser:innen von Die Jahre ohne uns aber gehörig durch. Sie ist so völlig anders als erwartet. Und aus der gedämpften Alltagsgeschichte einer älteren, depressiven Dame entwickelt sich eine rasante, abenteuerliche Erzählung, von der ich gar nicht viel erzählen möchte. Ich bin zumindest froh, dass ich die allzu auskunftsfreudige Radiobesprechung des Romans erst nach dem Lesen gehört habe. Sonst hätte ich mich um einiges an Lesefreude gebracht.
Denn Freude macht die Lektüre. Und sie lässt der Leser:in genügend Freiraum, um das Erzählte auf ihre Weise zu interpretieren. Als Geschichte einer psychische versehrten, alten Frau, als Märchen, als Fantasie, als Erfindung eines reumütigen Mannes. Und am Ende entdeckt man, dass Barney Norris von Beginn an Motive versteckt hat, die später im Text eine Bedeutung erlangen.
„Eine traumgleiche, gewundene Geschichte“ nennt die Schriftstellerkollegin A.L.Kennedy das Buch. Das stimmt. Sie erzählt von Einsamkeit, falsch getroffenen Entscheidungen, Verlusten, Reue, Trauer. Und sie erzählt vom Geschichtenerzählen und von der daraus erwachsenden Hoffnung. Wieder ein schönes Buch des erst 33jährigen Barney Norris, der hier mit verblüffender Empathie das Leben von zwei alten Menschen erzählt.
Beitragsbild: Wiltshire by Robin Jaffray (CC BY-NC-ND 2.0)via Flickr
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Barney Norris – Die Jahre ohne uns
Übersetzung: Johann Christoph Maass
DuMont Februar 2021, 272 Seiten, gebunden, € 22,00