George Orwell – Farm der Tiere und 1984 – Neuübersetzungen

Im vergangenen Jahr jährte sich der Todestag von George Orwell zum 70. Mal. Der 1903 im damaligen Britisch-Indien geborene Eric Arthur Blair, der hinter dem Schriftsteller-Pseudonym steckte, starb 1950 erst sechsundvierzigjährig an den Folgen einer Lungentuberklose in London. Neben seinen weltberühmten Werken Farm der Tiere und 1984, die nun nach Beendigung des Urheberschutzes in zahlreichen Neuauflagen und Neuübersetzungen in verschiedenen Verlagen erscheinen, verfasste George Orwell drei weitere Romane, Sozialreportagen, Autobiographisches und Essays.

Ein Reread birgt im Allgemeinen so manche Gefahren. Meist sind es Herzensbücher, solche, die sich bei der Lektüre tief eingebrannt haben, die man ein zweites oder auch drittes Mal hervorholt. Oft bestehen sie den Test und die Leser:in ist genauso verzaubert wie beim ersten Mal, entdeckt vielleicht neue Aspekte, legt andere Schwerpunkte, erinnert die Zeit der Erstlektüre. Manchmal aber enttäuscht ein Buch beim Wiederlesen. Hin und wieder ist man fast entsetzt darüber, diesen Text einmal so gemocht zu haben. Bücher, mit denen man nicht wirklich warm geworden ist, haben es meist leichter. Zwar werden sie selten zu einem Reread, dann aber müssen sie keinen hohen Erwartungen oder trügerischen Erinnerungen standhalten.

Schullektüre

So erging es mir mit Orwells Weltbestsellern. Einst als Schullektüre (Animal Farm) bzw. in den frühen Achtzigern, als die verhasste Volkszählung vor der Tür stand, auf Englisch (dem mein Schulenglisch kaum gewachsen war) gelesen, hatte ich nur im Kopf, was alle, auch ohne die Texte wirklich gelesen zu haben, darüber wissen. Dazu kamen eher unerfreuliche Leseerfahrungen. Es waren vor allem die schönen Manesse-Ausgaben und das diffuse Gefühl, da etwas nachholen zu müssen, die mich erneut nach George Orwell greifen ließen.

Die Parabel auf den Totalitarismus und die Überwachungsdystopie sind nicht nur seit über siebzig Jahren blendend verkaufte Stoffe – 1984 hat es während der Ära des Donald Trump sogar wieder in den Bestsellerlisten ganz nach oben geschafft -, sie fußen auch auf ganz persönliche Erfahrungen des Eric Arthur Blair.

Am 25. Juni 1903 im zu Britisch-Indien gehörenden Motihari als Sohn eines Kolonialbeamten und der Tochter eines Teakholzhändlers geboren, reiste er bereits 1904 mit Mutter und älterer Schwester nach England, wo er nach einer Zeit auf dem Internat zur Eliteschule Eton zugelassen wurde. Ein Studium kam aus finanziellen Gründen nicht in Frage und so bewarb er sich bei der britischen Kolonialpolizei im damaligen Burma (heute Myanmar), wo er von 1922 bis 1927 mit wenig Freude diente. 1927 quittierte er den Dienst und lebte als freier Journalist und Autor mehr schlecht als recht. Auch einen Aufenthalt 1928 in Paris bestritt er in großer Armut. Über diese Zeit erschienen 1933 seine Aufzeichnungen „Down and out in Paris and London“. Erfahrungen, die ihn zum Sozialisten werden ließen. 1934 erschien sein kolonisationskritischer Roman „Tage in Burma“.

Der Spanische Bürgerkrieg

1936 ging er mit seiner frisch angetrauten Frau Eileen nach Spanien, um sich dem Kampf der republikanischen Truppen gegen die Faschisten anzuschließen. Eher zufällig landete er bei einer trotzkistischen Splittergruppe, die bald in den Radar der auch in Spanien immer mehr Macht erlangenden Stalinisten gerieten. Diese führten auch hier Säuberungen durch, denen Orwell nach einer Verwundung nur knapp durch Flucht nach England entging.

by duncan c (CC BY-NC 2.0) via flickr
Parabel auf den Stalinismus

Weiterhin bekennender Sozialist, war ihm fortan die Aufklärung über die hässliche Seite des Stalinismus eine Herzensangelegenheit. Von der gerade während des Krieges, als Russland als Verbündeter gegen Nazideutschland dringend gebraucht wurde, keiner hören wollte. 1943 verfasst, stieß seine Parabel über den Stalinismus, Farm der Tiere, auf Ablehnung, bis es schließlich von Secker & Warburg im August 1945 veröffentlicht wurde. Diese Schwierigkeiten erläutert George Orwell im Text „Die Pressefreiheit“, der der Neuübersetzung von Ulrich Blumenbach bei Manesse beigefügt wurde. Aus diesem Vorwort stammt das berühmt gewordene Zitat: „Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“ Ergänzt wird auch mit einem informativen Nachwort von Eva Menasse. Beides sehr lobenswert.

Ursprünglich gegen einen ganz konkreten totalitären Staat verfasst – nämlich die stalinistische Sowjetunion -, hat es Farm der Tiere ebenso wir 1984 geschafft, als allgemeingültiger Text über die Entwicklung von autoritären Staaten rezipiert zu werden. Und erst dadurch seinen nun schon so langen Erfolg und seine Aktualität zu erhalten.

Tiercharaktere

Farm der Tiere ist durchaus in der Tradition der alten Tierfabeln didaktisch, George Orwell wollte aufklären und gehört werden, dennoch geht seine Geschichte darüber hinaus. Seine Tiercharaktere sind nicht bloße Funktionsträger, sondern ganz eigenständige Charaktere. Natürlich werden sie „vermenschlicht“, behalten aber auch das tierische Element. Und Orwell ironisiert sein Vorgehen selbst:

„Mit einigen Schwierigkeiten (denn für ein Schwein ist es nicht ganz einfach, sich auf einer Leiter zu halten) stieg Schneeball Sprosse für sprosse hinauf und machte sich an die Arbeit.“

Leicht kann man den Tiercharakteren reale menschliche Vorbilder zuordnen, wenn man die stalinistische Herrschaft als Hintergrund nimmt. Natürlich ist das alte, ehrwürdige Schwein, das die von Bauer Jones geknechteten und vernachlässigten Tiere mit der Möglichkeit, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen, bekanntmachte, Verkörperung der Väter des Kommunismus, Marx und Lenin. Nach seinem baldigen Tod und der gelungenen Vertreibung des Bauers herrscht zunächst eine solidarische, friedliche Egalität.

Die sieben Gebote des Animalismus
  1. Alles, was auf zwei Beinen geht, ist ein Feind.

  2. Alles, was auf vier Beinen geht oder Flügel hat, ist ein Freund.

  3. Kein Tier soll Kleider tragen.

  4. Kein Tier soll in einem Bett schlafen.

  5. Kein Tier soll Alkohol trinken.

  6. Kein Tier soll ein anderes Tier töten.

  7. Alle Tiere sind gleich.

So lauten die sieben Gebote des Animalismus. Aber schon bald verschaffen sich die klugen Schweine mehr Macht und es kommt zum Dualismus zwischen Napoleon (Stalin) und Schneeball (Trotzki). Letzterer wird von Napoleon mithilfe der von diesem konditionierten Hunde (Geheimpolizeit) vertrieben, verunglimpft und verfolgt. Die Macht gehört nun zunehmend allein Napoleon und dessen Propagandaapparat (Petzwutz, der vom Übersetzer einen neuen Namen erhielt – früher Schwatzwutz oder Quiekschnautz, und für den Stalinvertrauten Molotow steht). Das russische Volk wird durch die verschiedenen Pferdecharaktere verkörpert, die sich schwer arbeitend bereitwillig in ihr Los fügen, Distanz wahren oder die Farm verlassen. Auch die Intellektuellen und die Kirche sind in Tieren verkörpert (Esel Benjamin, Ziege Muriel und Moses, der Rabe). Der menschlichen Farmen der Umgebung repräsentieren wiederum die ausländischen Mächte.

by Photon™ (CC BY-NC-ND 2.0) via Flickr
Die Revolution frisst ihre Kinder

Während man also die Entwicklung der Sowjetunion von der Revolution hin zu den Selbstbezichtigungen, Säuberungen und schließlich Liquidierungen der „Abweichler“ historisch getreu verfolgen kann, wirkt der Roman auch ohne diese Kenntnisse als allgemeingültiges Menetekel. „Die Revolution frisst ihre Kinder“ (frei nach dem Girondistenführer Pierre Vergniaud)

Bevor am Ende fast alle Gebote des Animalismus verschwunden sind, werden sie abgewandelt, durch Zusätze an die Bedürfnisse der herrschenden Schweine angepasst. Gebot 4 bekommt den Zusatz „mit Leintüchern“, 5 „im Übermaß“ und 6 „ohne Grund“. Am Ende steht als letztes und einziges Gebot:

„„Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher.“

Anders als in den meisten „Märchen“, als das Farm der Tiere in dieser Ausgabe bezeichnet wird, schenkt uns George Orwell kein Happyend. Das wäre historisch gesehen auch nicht möglich gewesen. Im Original ist die Bezeichnung auch „A fairy story“, was eher noch den Begriff „Ammenmärchen“ oder „Lügengeschichte“ trifft. Wie auch immer, mit seiner Parabel erzählt George Orwell eine Wahrheit, auch wenn sie zur Entstehungszeit noch keiner so recht hören wollte. Dafür ist sie auch fast achtzig Jahre später immer noch hochaktuell.

1984

Noch bekannter und im Kollektivgedächtnis präsent ist von George Orwell natürlich 1984, vielleicht der dystopische Roman überhaupt. Ein Zitat wie „Big Brother is watching you“ kennt fast jeder. Die Zukunftsvision einer jeden Privatraum und jede Gedankenregung ausspähenden, totalitären Regierung hatte in den 1980er Jahren eine ganz besondere Brisanz. Der heutzutage weitgehend sorglose Umgang mit privaten Daten, sei es im Internet oder auf Social Media, war noch undenkbar, da die technischen Möglichkeiten fehlten. Die große Volkszählung in der BRD konnte 1981 durch massiven Widerstand eines großen Teils der Bevölkerung verhindert werden. Big Brother war ein häufig verwendetes Menetekel. (1987 wurde sie dann doch durchgeführt)

Die Amtszeit von US-Präsident Trump brachte dann noch einen anderen Aspekt des Romans in den Fokus der Wahrnehmung. Mit „Neusprech“ und einer von der Regierung etablierten alternativen Wahrheit hatte schon Winston Smith, der Protagonist in 1984, zu kämpfen. Sprache wurde zum Machtinstrument, zum Manipulierungsmittel, heute nennen wir es „Fake News“.

Es steckt also eine Menge aktueller Brisanz in George Orwells 1949 unter dem Eindruck von Faschismus und Stalinismus entstandener Dystopie. Dennoch konnte mich der Roman nicht so erreichen wie Farm der Tiere.

Aktualität

Das lag zum einen an der Hauptfigur Winston Smith, dessen misogyne Art mir zu schaffen machte. Seine Geliebte Julia nennt er tatsächlich „Rebellin von der Taille abwärts“ (Was diese natürlich herrlich amüsant findet). Weswegen die beiden nun gegen das Regime von Big Brother und seine Zweiteilung der Menschen in Mitglieder der Partei unterschiedlichen Rangs und die „Prolos“, die in großem Elend, aber einer gewissen Freiheit leben, revoltieren, erschließt sich mir auch bei der Wieder-Lektüre nicht ganz. Die Gewalt- und Folterszenen fand ich relativ abstoßend. Die dumpf vor sich hinlebenden „Prolos“, die für schmalzige Liebeslieder schwärmen und sich im permanenten Krieg, mit dem die drei Weltmächte Ozeanien, Eurasien und Südostasien sich wechselseitig überziehen, eingerichtet haben, sind arg platt dargestellt.

Aber natürlich enthält 1984 auch überraschende Klarsicht, tiefe Erkenntnisse und vor allem visionäre Kraft, die auch mehr als siebzig Jahre nach dem Entstehen sehr beeindrucken. Die damals kaum vorhersehbaren heutigen Überwachungsmöglichkeiten, Fake News, Spaltung der Gesellschaft, Doppeldenk und alternative Wahrheiten – das beschäftigt uns auch heute. Damit bleibt es das Buch, an dem sich sämtliche Dystopien messen lassen müssen. Eine Wiederlektüre lohnt sich auf jeden Fall. Die Neuübersetzung von Gisbert Haefs ist moderat modernisiert und gut lesbar. Ein Nachwort von Mirko Bonné ist beigefügt.

Beide Neuübersetzungen von George Orwell – Farm der Tiere und 1984 – sind sehr schön gestaltet und rundum empfehlenswert.

 

Beitragsbild: The Orwell Mural, Southwold Pier by Snapshooter46 (CC BY-NC-SA 2.0) via flickr

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George Orwell – Farm der Tiere

Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach
Mit Nachwort von Eva Menasse
Manesse Januar 2021, Hardcover mit Schutzumschlag, 192 Seiten, € 18,00

 

 

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Aus dem Englischen von Gisbert Haefs
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4 Gedanken zu „George Orwell – Farm der Tiere und 1984 – Neuübersetzungen

  1. Ich denke man sollte in 1984 dem an der Oberfläche einfachen „Gut vs Böse“ genauso wenig folgen, wie bei Kafka. Winston ist, wie im Buch mehrfach deutlich wird, kein besonders toller Mensch & Rebell eher aus Zufall. Die „Einfachheit“ der Proles ist auch trügerisch, denn so sehr Winston deren Vitalität, im Sinne von einer gewissen Unberührtheit durch das herrschende System, zusagt, so sehr ist deren Einfachheit, das “ für schmalzige Liebeslieder schwärmen…“ usw., ja auch eine gemachte: Es ist der Staatsapparat, der diese Schlager produzieren lässt und die Proles in der Prole-Rolle hält.
    Aber: Eben nicht so kontrolliert, wie Winston & Co in der Widerständler-Rolle kontrolliert werden. Orwell ist darin immer ganz Kommunist geblieben, dass er die Revolution jenseits von Intellektuellenzirkeln und Parteiapparaten verortet hat; auch die gegen ein System mit „sozialistischen“ Merkmalen. Aber er ist auch soweit desillusionierter Realist, als dass er diesen Aufstand für sehr unwahrscheinlich hält, da die meisten Menschen mit etwas Brot & Spielen ausreichend zufrieden sind…

    mE dürfte ein Roman, der so eng an die Hauptfigur Winston gekoppelt ist, die Proles kaum weiter aus ihrerm diffusen Klischee herauskommen lassen, denn auch für Winston sind sie das unbekannte Dritte – eine Masse bzw. Klasse, auf die er sein Leben lang nur eine Perspektiv gelernt hat.

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