Meine März-Lektüre 2021 war sehr vielseitig, nichts wirklich enttäuschend.
Highlight des Monats war für mich der neue Roman von Patrick Modiano – Unsichtbare Tinte. Auch wenn er womöglich nicht zu seinen stärksten Romanen gehört, fügt er dem Werk des Nobelpreisträgers doch ein neues Mosaikteilchen hinzu. Ich bin bekennender Modiano-Leser und begegne da oft Unverständnis. Auch wenn die Literaturkritik meine Begeisterung meistenteils teilt, bricht bei vielen Leser:innen beim Stichwort Modiano oft große Langeweile oder Ablehnung aus. Modiano schreibt mit jedem seiner schmalen Romane an seinem großen Lebensbuch. Der neueste hat vielleicht nicht die Dringlichkeit, die z.B. die frühe Abendgesellschaft hatte. Vielleicht ist es auch ein Alterswerk des mittlerweile 75jährigen Literaturnobelpreisträgers. Ich folge seinen Erkundungen aber weiterhin gerne.
Für Interessierte habe ich begonnen, Modianos Werk vorzustellen. (Bin aber leider noch nicht so weit wie gewünscht gekommen) Patrick Modiano lesen : Backlist
Nun aber zu meiner Lektüre im März 2021:
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Monika Helfer schreibt ihre Familiengeschichte fort.
Nach dem großen Erfolg von „Die Bagage“ im letzten Jahr, wo die Leser:innen die tragische Geschichte von Helfers Großmutter und Mutter in einem kleinen Dorf im Bregenzer Wald kennenlernen durften, steht nun in „Vati“, der Name verrät es, der Vater im Mittelpunkt der Erzählung.
Unter schweren Bedingungen als Sohn einer ledigen Magd aufgewachsen, kurz vor der Matura zum Fronteinsatz einberufen, aus Russland mit abgefrorenem Bein zurückgekommen, findet er als Verwalter eines Kriegsopferheims im Vorarlberg einen Hafen. Für Monika Helfer war das Leben auf der Tschengla sogar „das Paradies“. Aber eines mit begrenzter Haltbarkeit.
In ihrer gewohnt knappen, spröden und zugleich poetischen Erzählweise fängt Monika Helfer die Geschichte ihres Vaters, die eigene und die Atmosphäre von Zeit und Ort wieder wunderbar ein.
Bereits „Die Bagage“ hätte nach meinem Dafürhalten unbedingt für den Deutschen Buchpreis nominiert gehört. Mal sehen, ob „Vati“ im Herbst auch wieder unberücksichtigt bleiben wird. Das wäre schade.
Barney Norris – Die Jahre ohne uns
Eine ältere Frau erzählt von sich, von ihrer Einsamkeit, dem frühen Verlust des Vaters, der eines Tages einfach verschwand, ihren psychischen Problemen, dem Weggang ihres Mannes.
Die regelmäßige Therapiesitzung im Krankenhaus steht an, und danach macht die Frau einen Stop an einer nahegelegenen Hotelbar. Dort trifft sie auf einen Mann ihres Alters, man kommt ins Gespräch und die Leserin glaubt zu wissen, was nun kommt.
Dass Barney Norris die Geschichte dann in ein gänzlich anderes Fahrwasser steuert, verblüfft. Ich habe mich gerne darauf eingelassen und habe mich auch an Barney Norris ersten Roman „Hier treffen sich fünf Flüsse“ gerne zurückerinnert.
Patrick Modiano – Unsichtbare Tinte
Ein Mann erinnert sich, wie so oft bei Patrick Modiano, an seine Jugend in den 1960er Jahren. Wieder spielt Paris ein Rolle, wieder verschwindet eine rätselhafte Frau. Ihre Spur führt den gealterten Mann, der damals für eine Detektei gearbeitet hat, in seinen Heimatort Annecy in der Haute-Savoie, eine Gegend, die im Werk Modianos auch immer eine besondere Rolle spielt. Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend werden wach. Und bleiben doch so flirrend und unklar wie stets in den von Autobiografischem getönten Romanen des französischen Literaturnobelpreisträgers. Mit Unsichtbare Tinte fügt er seinem Lebensbuch ein neues Puzzleteilchen hinzu.
Hildegard Keller – Was wir scheinen
In Hildegard Kellers Roman kommen wir der älteren Hannah Arendt sehr nahe. In ihrem letzten Sommer 1975 weilt sie noch einmal im Tessin. Hier, wo sie jedes Jahr mit ihrem 1970 verstorbenen Mann Heinrich Blücher die Ferien verbrachte, kommen Erinnerungen auf. Unzählige bekannte Geistesgrößen, mit denen Hannah Arendt in Verbindung stand, ziehen vorbei. Das ist gerade zu Beginn ein regelrechtes Who is who und leider ein wenig anstrengend. Auch rückt Hildegard Keller der großen Publizistin bisweilen zu nahe. Ein Problem, das ich mit vielen Romanbiografien habe. Andererseits wird Keller dankenswerter Weise nie indiskret und mit fortschreitender Lektüre gelingt auch die Balance zwischen Nähe (durch die personale Perspektive) und Distanz ganz ausgezeichnet. Am Ende habe ich mich wirklich schweren Herzens von Arendt und Buch getrennt. Besonderes Gewicht wird auf den Prozess gegen Adolf Eichmann und Arendts „Banalität des Bösen“ gelegt, das für sie durch die entfachte Kontroverse so manchen persönlichen Verlust bedeutete.
Eva Schmidt – Die Welt gegenüber
Eine junge, liberal und in höchsten Kreisen aufgewachsene Sudanesin muss nach dem Militärputsch 1985, bei dem ihr Vater als hoher Regierungsbeamter hingerichtet wird, aus dem Land fliehen. Mit Mutter und Bruder sucht sie Zuflucht in London. Die neu erworbene Freiheit ist zunächst verheißungsvoll, aber nach dem Tod der Mutter und dem Absturz des Bruders in Drogen und Kriminalität fehlt Nadschwa bald nicht nur Geld, sondern auch Orientierung und Geborgenheit. Die findet sie in einer islamischen Gemeinde und wird streng religiös.
Sehr aufschlussreich und wirklich gut geschrieben, konnte ich inhaltlich nicht immer mitgehen.
Fabian Neidhardt – Immer noch wach
Ein junger Mann erhält die Diagnose Magenkrebs in fortgeschrittenem Stadium. Ein Schock, ist doch der Vater einst früh und qualvoll genau daran gestorben. Alex entschließt sich, seine letzten Wochen oder Monate in einem Hospiz zu verbringen – allein. Er verabschiedet sich von Freund und Freundin, um den letzten Weg ohne sie zu gehen.
Alex erzählt selbst. Fabian Neidhardt ist diese Perspektive gut gelungen. Und auch wenn die Geschichte zwangsläufig immer wieder mal recht pathetisch, ja sogar rührselig wird – es wird unglaublich viel geweint im Buch -, wird die Grenze zum Kitsch glücklicherweise nie überschritten. Manchmal ein wenig vorhersehbar, gelingt aber ein sehr berührender und überzeugender Text.
Julian Barnes – Der Mann im roten Rock
Für das kommende Büchergilde Magazin durfte ich (neben Bernardine Evaristos Mädchen, Frau etc.) Julian Barnes neues Buch Der Mann im roten Rock vorstellen. Beinahe hätte ich diesen tollen Text, der zusammen mit zahlreichen großartigen Abbildungen von Gemälden, Fotos und Schokoladen-Sammelbildchen ein Gesamtkunstwerk ergibt, übersehen, da ich mittlerweile doch sehr im belletristischen Bereich festgefahren bin. Hier präsentiert uns Julian Barnes einen so kenntnisreichen wie amüsanten und unterhaltsamen Einblick in die Belle Epoque, die Zeit um die vorvergangene Jahrhundertwende. Als Türöffner dient dabei Dr. Samuel Pozzi, Gynäkologe, Hygieniker, Homme à femme und Freigeist. Barnes reiht Episode an Episode, Anekdote an Anekdote, bedient sich gerne auch des Klatsches und stellt uns zahlreiche Zeitgenossen Pozzis vor, beispielsweise Oscar Wilde, Sarah Bernhardt, Marcel Proust und – als Inkarnation des für Barnes für diese Zeit so typischen Typs des Dandys – Robert de Montesquiou-Fezensac. Die „Schöne Epoche“ ist für Barnes dabei neben einer Blütezeit der Kunst, de Kultur und des Ästhetizismus eine durchaus zänkische, unschön aufgeladene Zeit der gesellschaftlichen Skandale, Schmutzkampagnen in der Presse und überstürzten Duelle. Das Buch ist eine wirklich glänzende Reise in eine spannende historische Epoche, lässt aber natürlich weite Kreise der Gesellschaft, beispielsweise Unterschicht und Kleinbürgertum, und die meisten politischen Aspekte völlig außen vor.
Alem Grabovac – Das achte Kind
Der Debütroman des Journalisten Alem Grabovac erzählt eine autobiografische Geschichte. Es ist die Geschichte der Kindheit und Jugend von Alem Grabovac. Er war das achte Kind einer deutschen Pflegefamilie, die in den siebziger Jahren einige Kinder von sogenannten Gastarbeiterinnen aufnahm, wenn diese keine andere Betreuungsmöglichkeiten hatten. Smilja, Alems Mutter, war aus großer Armut in Kroatien aus eigener Kraft nach Deutschland gelangt, wo sie Arbeit in einer Schokoladenfabrik fand und bald den Bosnier Emir kennen und lieben lernte. Dass Emir ein charmanter, aber völlig unzuverlässiger Kleinkrimineller war, erfuhr sie erst nach und nach. Eines Tages verschwand er spurlos. Und ihr blieb für ihren wenige Wochen alten Sohn nur die Pflegefamilie. Alem wächst zwischen der bürgerlichen Familie Behrens und den prekären Verhältnissen bei seiner Mutter und ihrem neuen, trinkenden und gewaltbereiten Freund Dušan auf. Schnörkellos und packend erzählt Alem Grabovac – fiktionalisiert, aber sehr dicht am Erlebten – seine eigene Geschichte. Ein sehr gelungener Debütroman.
Maryse Condé – Mein Lachen und Weinen
Eine Kindheit in der Karibik. Maryse Condé wächst in den 1940er und 1950er Jahren auf Guadeloupe in einer Familie der dortigen Oberschicht auf. Der Vater ist höherer Staatsbeamter, die Mutter Lehrerin und beide fühlen sich 100% als Franzosen. Alle acht Kinder studieren in Frankreich, so auch Maryse. Sie ist die jüngste der Geschwister und entdeckt später ihre afrikanischen Wurzeln. Über ihr weiteres Leben hat sie die Autobiografie Das ungeschminkte Leben geschrieben, die im letzten Jahr auch in Deutschland veröffentlicht wurde. In Geschichten und Episoden erzählt Maryse Condé hier sehr lebhaft und sinnlich von ihren frühen Jahren. Schön, dass der Verlag Litradukt diesen bereits 1999 im Original erschienenen Erzählungsband nun auch auf Deutsch veröffentlicht hat.
Das war sie, meine Lektüre im März 2021. Ein Jahr Pandemie liegt hinter uns. Der Frühling hoffentlich bald dauerhaft vor uns. Viele tolle Frühjahrsneuerscheinungen warten darauf gelesen zu werden. Bleiben wir hoffnungsvoll!
Sich bei diesen Modiano-Büchern mit 100-150 Seiten zu langweilen, ist aber auch eine Art Leistung 😉 Ich hab alle bei uns in der Bibliothek gelesen, wunderschöne Bücher.
Nur die Vokale in seinem Namen richtig zu ordnen, bleibt für mich irgendwie eine Herausforderung…
Schön zu sehen, dass es auch andere Freunde von Modianos Werk gibt. Oft begegnet mir nur Unverständnis und gepflegte Langeweile. Aber ja, auch das eine Kunst 😉