Dmitrij Kapitelman – Eine Formalie in Kiew

„Joa, üm den Ümgang mid den ukrainisch’n Behörd’n beneide ich Sie ooch nisch“ verabschiedet sich die Sachbearbeiterin Kunze von der Ausländerbehörde Leipzig von Dima, dem augenscheinlichen Alter-Ego von Dmitrij Kapitelman in Eine Formalie in Kiew. Dima hat sich nach fünfundzwanzig Jahren entschieden, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen und braucht dafür „lediglich“ noch eine mit einer amtlichen Bestätigung, einer Apostille, versehene Geburtsurkunde. Die bekommt er aber nur vor Ort, in seiner Geburtsstadt Kiew.

Allerlei Warnendes wird Dima mit auf den Weg gegeben. Vor allem, immer genügend Geld dabei zu haben, um sich ordentlich „entdanken“ zu können. Entdanken, eine der originellen Wortschöpfungen, die sich Dmitrij Kapitelman für Eine Formalie in Kiew ausgedacht hat, und die auf elegante Weise das Wort „Bestechung“ umgehen soll. „Übersprunghandeln“ oder „eingevorurteilt“ sind weitere dieser Kapitelman-Neologismen, die zur kulturellen und sprachlichen Verwirrung passt, die Dima auf seiner Reise in die „alte Heimat“ erfasst. Die Familie Kapitelman hat die Ukraine 1994 als jüdische Kontingentflüchtlinge verlassen, Dima war da gerade acht Jahre alt. Seine komplette Schulkarriere und Sozialisation erfolgte in Deutschland. Natürlich fühlt Dima sich als Deutscher.

Der deutsche Pass

Warum er erst nach 25 Jahren den deutschen Pass möchte, erklärt er sich mit Solidarität mit seinen Eltern. Das Verhältnis zu ihnen ist seit einiger Zeit aber belastet. Die Mutter kümmert sich laut Dima nur noch um ihre dreizehn Katzen, ihr „Katzastan“, und der Vater versinkt zunehmend in Lethargie. Außerdem will der junge Mann endlich wählen dürfen, gegen den zunehmenden Rechtpopulismus in Deutschland stimmen. Also fliegt er nach Kiew, mit allerhand Geld in den Taschen und der mütterlichen Warnung, nie auf einen Gullideckel zu treten. Denn wer weiß, ob die in der Ukraine auch wirklich fest verankert sind?

Kiew
Kiew by Marco Fieber (CC BY-NC-ND 2.0) via Flickr

Überraschend stellt Dima fest, dass vor Ort alles ganz anders ist als befürchtet. Der jungen Damen vom Amt sind nicht nur freundlich, sondern auch effektiv, „entdankt“ will keine werden. Eine Apostille benötigt zwar „zwei bis achtzig Tage“, aber ist wahrscheinlich schon nächste Woche da. Zeit, um durch die Stadt zu schlendern, Gullideckel zu meiden, Erinnerungsorte aufzusuchen, einen alten Kindheitsfreund zu treffen. Einiges scheint sich unter dem „Komiker-Präsidenten“ Selensky doch geändert zu haben. Dima spricht allerdings kaum Ukrainisch, haben seine Eltern doch zuhause immer Russisch gesprochen. Dieses Russisch wird nicht mehr überall gern gesehen.

Doch alles läuft recht gut, die Geburtsurkunde samt Apostille ist rechtzeitig da und der Rückflug ist geplant, da trifft überraschend Vater Leonid in Kiew ein. Seine Zahnprothese ist verschwunden, und die Zähne zu machen, in der Ukraine doch so viel billiger. Außerdem ist der Vater laut Auskunft der Mutter in letzter Zeit etwas verwirrt. Auch danach soll doch bitte mal geschaut werden. Vielleicht ist das auch der Grund, weswegen der Vater die deutschen Krankenkassenbeiträge nicht mehr gezahlt hat und nun ohne Versicherung dasteht.

Kiews Krankenhäuser

Also eine weitere Odyssee – diesmal durch Kiews Krankenhäuser. Hier hat sich augenscheinlich weniger als auf den Ämtern getan. Ohne „Entdankung“ passiert hier wenig, die Zustände auf den Stationen sind erbärmlich. Aber die dann gestellten Diagnosen sind deutlich: Leonid hat offensichtlich schon in Deutschland einen Schlaganfall erlitten und ein zweiter droht.

Besonders zu Beginn erzählt Dmitij Kapitelman von seiner Reise ziemlich überdreht, der Ton ist stark satirisch, aber auch selbstironisch. Sobald der Vater in Kiew eintrifft, wird er wärmer, entspannter. Mit genauem Blick schaut Kapitelman auf seine beiden Heimaten, die Eltern, die in eine gewisse lethargische Ostalgie verfallen sind, die Bürokratie in Deutschland und die Dysfunktionalität in der Ukraine. Eine Formalie in Kiew ist auch ein Buch über Familie. Darüber, dass sich die Damals-Eltern von den Heute-Eltern vielleicht sehr unterscheiden mögen (zumindest in der Erinnerung), dass sie aber immer Teil des eigenen Lebens sind und bleiben.

 

Auf Kulturgeschwätz gibt es eine weitere Besprechung

Beitragsbild by Justus Blümer (CC BY 2.0) via Flickr

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Dmitrij Kapitelman Eine Formalie in Kiew.

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Dmitrij Kapitelman – Eine Formalie in Kiew
Hanser Berlin Januar 2021, 176 Seiten, Fester Einband, 20,00 €

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