Das Jahr rast voran und das erste Drittel ist bereits vergangen. Während der Frühling uns bisher nur kleine Lichtblicke schenkt, zeichnet sich zumindest in der uns alle belastenden Pandemie ein gewisser Hoffnungsschimmer ab. Im Gegensatz zu den nur zögerlich besser werdenden Nachrichten bleibt der Literaturfrühling bisher auf hohem Niveau. Meine Lektüre im April war auch 2021 sehr gelungen. Eine schwere Enttäuschung und ein Buch, von dem ich schon ahnte, dass es nicht meines sein dürfte (das aber der Lesekreis lesen mochte) waren die Ausnahmen von ansonsten durchweg sehr guten Leseerfahrungen.
Highlights waren vielleicht die Botschaften an mich selbst von Emilie Pine – radikal offene Essays über das Leben als Frau -, Matthias Jüglers Buch über eine Kindheit in der DDR Die Verlassenen und Shida Bazyars Drei Kameradinnen. Mein Ticket für das geplante Leseclub-Event in Frankfurt zu letzterem behält seine Gültigkeit und ich freue mich auf den Austausch über dieses auf angenehmste Weise provokante Buch. Sehr gut waren auch Kapitelman und Wagamese.
Ein tolles Hörbuch habe ich auch gehört und mir gleich das Buch dazu besorgt. Aber nun endlich zu meiner Lektüre April 2021.
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Sharon Dodua Otoo – Adas Raum
Dieses in diesem Frühjahr omnipräsente und hochgelobte Buch hätte ich ohne unseren Debüt-Lesekreis nicht gelesen. Der Text, der sich in von der Autorin so genannten „Schleifen“ um vier unterschiedliche Frauen namens Ada in und an ganz unterschiedlichen Zeiten und Orten (1459/Ghana, 1848/London, 1945/Konzentrationslager Mittelbau-Dora, Berlin/heute) bewegt, ist sehr ambitioniert. Versklavung und Sklavenhandel in Ghana, die vermeintliche Affäre der britischen Mathematikerin Ada Lovelace mit Charles Dickens, eine ins Lager-Bordell gezwungene KZ-Insassin und eine sich auf Wohnungssuche befindende, hochschwangere Schwarze in eine Romanhandlung zu betten, die unbelebte Welt in Gestalt eines Reisigbesens oder eines Türklopfers zu Wort kommen zu lassen, dahinein noch einen mit einer Mission betrauten Weltgeist und eine/n berlindernde/n Gott zu integrieren, ist so originell wie mutig. Das allein reichte mir aber nicht, dieses Buch zu mögen. Mir fehlte tatsächlich etwas so Altmodisches wie: Was will mir diese Buch eigentlich Neues, Wichtiges erzählen? Dass Frauen über die Jahrhunderte benutzt, unterdrückt, ausgebeutet werden und immer wieder Gewalterfahrungen unterworfen sind? Wichtig, aber nun wirklich nichts Neues. Und der Text schafft es nicht, aus den unterschiedlichen Geschichten und Perspektiven und der unzweifelbar richtigen „message“ etwas Organisches, Packendes, Berührendes zu machen. Die Figuren zersplittern, interessierten mich schon bald nicht mehr. Der Aufbau ist wenig zwingend, liefert keinen literarischen Mehrwert und wirkt dadurch wie reine Spielerei.
Der Roman wird höchstwahrscheinlich auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis erscheinen und hat schon viele begeisterte Leser:innen gefunden. Das ist ihm und seiner Autorin von Herzen zu gönnen. Denn es darf auch nicht vergessen werden, dass es sich hier um einen Debütroman handelt. Mich konnte er leider nicht erreichen.
Eine Frau erwartet Zwillinge. Der Nachwuchs ist langersehnt, aber schon bald zeichnen sich Probleme ab. Der eine Zwilling wächst nicht weiter, der andere Embryo scheint sich regelrecht von ihm zu „ernähren“. Bald scheint „der Kleine“ nicht mehr zu leben. Die Überraschung ist groß, als dann doch zwei lebende Babys zur Welt kommen. Hans und „der Kleine“ behalten ein Leben lang eine besondere, symbiotische Beziehung zueinander, in der die Rollen aber keineswegs so fest verteilt sind, wie es scheint.
Ein feiner, kleiner Roman von der frankokanadischen Schriftstellerin Aude, die bereits 2012 verstarb.
Emilie Pine – Botschaften an mich selbst
Was für ein tolles, radikal offenes, berührendes Buch! In sechs Essays setzt sich die Irin Emilie Pine mit ihrem Mädchen- und Frausein auseinander, mit den Eltern und der weiblichen Arbeitswelt. Analytisch, wütend, hoffnungsvoll.
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„Ich werde meine Ideen und meine Gefühle wertschätzen. Ich werde jeden Tag schreiben, weil Schreiben eine der Tätigkeiten ist, bei denen ich mich am lebendigsten fühle.(…) Ich werde nicht zögern, das Wort „Vergewaltigung“ auszusprechen, nur weil ich einen hübschen Rock trage. Ich werde Misogynie beim Namen nennen. (…)Ich werde auf meinen mittelbejahrten Körper achtgeben. (…) Ich versuche es. Und ich habe Angst. Ich habe Angst, über das Ausweichen zu schreiben, über Emotionen und Überarbeitung, über Depressionen und Burnout, weil ich immer noch überzeugt bin, dass es mich nicht stark, sondern schwach aussehen lässt, wenn ich Verletzlichkeiten eingestehe. Ich habe Angst, dadurch nur meine Jugend, Niedlichkeit und Machtlosigkeit zu bestätigen. (…) Ich habe Angst, anstrengend zu sein. Und ich habe Angst, nicht anstrengend genug zu sein.“
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Tolles Buch!
Richard Wagamese – Der gefrorene Himmel
Ein weiterer kanadischer Roman (der Gastlandauftritt nähert sich), ein weiterer bereits verstorbener Autor.
Saul, vom Stamm der Ojibwe wie der Autor, wird in den 1950er Jahren wie viele andere indigene Kinder (First Nations, Métis, Inuit) in einer Residential School untergebracht. Seine Eltern sind verschwunden, die Großmutter starb. Viele der Kinder in diesen staatlichen, oft kirchlich geführten Schulen wurden ihren Eltern zwangsweise entzogen. Ziel war, ihre „Wildheit“ zu bekämpfen, sie ihrer indigenen Wurzeln zu berauben. Gewalt, sexueller Missbrauch, Elend und Einsamkeit waren der Preis für die Kinder. Saul gelingt es durch sein großes Talent beim Eishockey, diesen Umständen zu entkommen. Für ihn ist die Eisfläche ein „gefrorener Himmel“. Aber auch in der Sportwelt gibt es Rassismus und verdrängte Gewalterfahrungen bleiben nicht für immer unter der Oberfläche. Ein wirklich schön und berührend erzählter Roman. Eine unbedingte Leseeempfehlung!
Dmitrij Kapitelman – Eine Formalie in Kiew
Ein weiterer autofiktionaler Text. Um nach 25 Jahren in Deutschland einen deutschen Pass zu bekommen, muss Dimitrij eine beglaubigte Geburtsurkunde beschaffen. Das geht nur in seinem Geburtsort Kiew, vor dessen Gullideckeln und Behörden ihn seine Eltern zeitlebens gewarnt haben. Vor Ort läuft aber eigentlich alles ganz gut, bis sein Vater aus Deutschland auftaucht, um einige medizinische Untersuchungen machen zu lassen. Denn in der Ukraine ist das doch so viel billiger als in Deutschland. Aus der „Formalie“ wird dann ein längerer Aufenthalt, der Dima seiner Vergangenheit, der kreativen Dysfunktionalität seiner ehemaligen Heimat und seinen Eltern wieder näherbringt. Witzig, manchmal ein wenig überdreht, nachdenklich. Ein schöner, schmaler Roman.
Volker Jarck – Sieben Richtige
Sieben Richtige habe ich zunächst gehört. Christoph Maria Herbst verleiht diesem Text eine geniale sprachliche Umsetzung. Vielleicht ein Dutzend Menschen (ich habe nicht mitgezählt, sieben waren es jedenfalls nicht) begleiten wir durch die Jahre. Die älteste Episode stammt von 1987, die neueste aus dem Jahr 2041. Bochum, Köln, ein wenig Boston und Rom. Das „normale“ Leben. Liebe, Familie, Einsamkeit, Freundschaft, Tod. Was gibt es spannenderes, berührenderes als der stete Versuch, es „richtig“ zu machen? Aber was ist dieses „richtig“ und wie funktioniert das? Und immer vergeht die Zeit viel zu schnell.
Selten so viel geschmunzelt, traurig gewesen, nachgedacht während eines Hörbuchs.
Deshalb musste auch das Buch bei mir einziehen (und hoffentlich bald auch nochmal gelesen werden).
Jemma Wayne – Der silberne Elefant
Dieses Buch war die vielleicht größte Enttäuschung der letzten Monate. Eine Geschichte von drei Frauen und ihren Schicksalen. Die Ruanderin Emilienne verliert beim Völkermord ihre gesamte Familie und versucht in London ihre traumatischen Erinnerungen loszuwerden; Lynn hat nur noch wenige Monate zu leben; Vera hadert mit einer weitreichenden Entscheidung, die sie in ihrer Jugend getroffen hat. Alle drei Erzählstränge bleiben leider in relativ trivialen Bahnen, was den Völkermorden in Ruanda aber nun wirklich nicht gerecht wird. Es gibt gute Passagen auch in diesem Buch, insgesamt aber enttäuscht es.
Shida Bazyar – Drei Kameradinnen
Dieses ist vielleicht die Entdeckung des Monats. Zwar fand ich Shida Bazyars Debütroman Nachts ist es leise in Teheran, der 2016 den Bloggerpreis für Literatur Das Debüt gewann, großartig. Hatte aber irgendwie im Moment nicht so recht Lust auf einen Roman „voller Wucht und Furor“, der sich wieder um das in diesem Frühjahr vielleicht präsenteste Thema überhaupt dreht: Rassismus, Intersektionalität, Diskriminierung.
Dann kam die Aussicht auf einen Leseclubabend mit der Autorin (der dann coronabedingt verschoben werden musste). Und ich war dabei. Und habe damit mein Highlight des Monats und sicher eines DER Bücher des Jahres entdeckt. Der Ton und die Perspektive aus der die Erzählerin Kasih von sich und ihren beiden „Kameradinnen“ Hani und Saya und dem „Jahrhundertbrand in der Bornemannstraße“ schreibt, ist so gelungen wie genial. Es geht natürlich um die oben genannten Themen, und da ist auch ordentlich Wucht und Furor dahinter. Der Text provoziert, rüttelt die Leser:in durch, berührt, ärgert, reißt mit. Aber da ist auch immer Humor, Zärtlichkeit, Solidarität und eine so authentische wie bezaubernde Freundschaft zwischen den drei Frauen. Und vor allem sind alle Personen sehr ambivalent gestaltet. Ich finde eigentlich alles an diesem Roman äußerst gelungen und freue mich nun umso mehr, die Autorin irgendwann einmal am Leseclub-Abend zu treffen.
Roberto Camurri – Der Name seiner Mutter
Elegant und spannend erzählt Roberto Camurri vom kleinen Pietro, der mit seinem Vater in einem Provinzstädtchen in der Emiliga-Romana lebt. Die Mutter hat die beiden verlassen, als Pietro erst wenige Monate alt war und hat sich nie wieder gemeldet. Der Vater ist fürsorglich, aber schweigsam und in seiner Trauer verschlossen. Der Name der Mutter und ihre ganze Existenz sind in der Familie tabu. Dass das keine sehr weise Entscheidung für die Entwicklung eines Kindes ist, kann man sich denken. Das Buch leidet ein wenig unter der sehr einseitigen Perspektive. Erzählt wird zwar von Pietros Warte aus, aber dessen Wahrnehmung ist hundertprozentig vom Vater geprägt. Die Mutter bleibt leider nicht nur für den Sohn, sondern auch für die Leser:in ein Schemen. Dennoch ein lesenswertes Buch.
Matthias Jügler – Die Verlassenen
Jan Drees nannte es auf Deutschlandfunk “ eines der besten Bücher dieses Literaturfrühlings.
„Zärtlich, traurig, schmerzhaft, schön.“ So wird auf dem Cover des neuen Romans von Matthias Jügler. Die Verlassenen, geworben. Und so skeptisch man solchen Blurbs in der Regel gegenüber stehen mag, hier treffen alle vier Adjektive zu einhundert Prozent zu.
Der 1984 geborene Matthias Jügler erzählt in Die Verlassenen eine Geschichte aus der DDR und der Nachwendezeit, die so spannend wie berührend ist. Es geht darin, wie so oft in Erzählungen aus dem sozialistischen Deutschland, um stille Ungeheuerlichkeiten, um Verrat, um zerstörte Familien und Freundschaften. Es ist ein schmales Buch von gerade einmal 170 Seiten, äußerst dicht, komprimiert, intensiv.
Eine dringende Leseempfehlung.
Mit diesen Lektüre-Tipps verabschiede ich mich vom April 2021 und fordere jetzt unbedingt einen stabilen Frühling. Mit Draußen-Lesen, Grillen und Sonnenschein! Die passenden Mai-Bücher liegen schon bereit. Euch allen wünsche ich einen tollen Wonnemonat.