Helga Schubert – Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten

Das Buch beginnt und endet mit einem Moment des Glücks. Und damit umarmen quasi die beiden Texte Mein idealer Ort und Vom Aufstehen insgesamt 29 kurze Prosastücke, die vom Leben der Autorin Helga Schubert erzählen. Einem Leben, das mittlerweile 81 Jahre währt und das außer den Momenten des Glücks natürlich auch etliche des Schmerzes kannte.

In Mein idealer Ort wacht das Kind in der Hängematte im Garten der Großmutter auf. Hier darf sie wie jedes Jahr die Sommerferien verbringen. Und es ist ein wirklich idealer Moment, wie ihn die meisten von uns so oder ähnlich auch als Erinnerungsschatz im Gedächtnis bewahren: der erste Tag der freien Zeit, die endlos vor einem liegt, Sonne, Wärme, Garten, Streuselkuchen, Früchte und ein Buch. Und doch schleichen sich in diese Erzählung von einer Idylle schon störende Untertöne ein. Untertöne, die von einer Person herrühren, die eigentlich für Nähe und Vertrauen stehen sollte – der Mutter. Das durchaus ambivalente Verhältnis, das zwischen Helga Schubert und ihrer Mutter, die erst vor wenigen Jahren im Alter von 101 Jahren verstarb, bestand, zieht sich als Motiv durch fast alle der hier versammelten Geschichten.

Die Autorin war „ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind“, später „ein Kind der deutschen Teilung.“

Die Mutter

Der Vater starb 1941 im Krieg, Helga konnte ihn nicht kennenlernen. Er bleibt eine lebenslange Leerstelle, die Frage, wie ein Leben mit ihm verlaufen wäre, ob er seine Tochter hätte lieben können, stets präsent. Denn die Mutter konnte diese Liebe ein Leben lang nicht aufbringen. Bei Kriegsende flüchtete sie mit der Fünfjährigen aus Hinterpommern, wohin sie als Berlinerin evakuiert worden war, zu den Schwiegereltern nach Greifswald. Eine Anstrengung, die sie ihrer Tochter immer wieder vorhielt. Ebenso zwei andere Momente: dass sie sich gegen eine Abtreibung entschieden hatte und dass sie das Kind beim Einmarsch der Roten Armee nicht, wie vom Schwiegervater empfohlen, getötet hatte. Vorwürfe, die der eigenen Tochter gegenüber unglaublich sind. Und bei dem Kind einen lebenslangen Schmerz hinterlassen, das ganze Leben prägten.

Unglaublich kalt gegenüber dem eigenen Kind erscheint die Mutter. Durchaus ambivalent schildert die Autorin sie aber auch als Frau, die Kultur liebte und Bücher, eigenständig und stark war und ihre Urenkelin sehr zugetan war. Besonders im Text Eine Wahlverwandtschaft wird der große Schmerz des ungeliebten Kindes Helga spürbar. Hier wechselt die Erzählstimme immer wieder vom Ich zum sie und zu die Tochter. Eine literarische Gestaltung, die über die rein autobiografische Erzählung weit hinausweist.

Die DDR

Ein weiteres Motiv, das sich durch viele der Texte zieht, ist das Leben in der DDR. Helga Schubert ist klinische Psychologin und seit den 1960er Jahren als Autorin tätig, die in der DDR durchaus Privilegien genoss, wie beispielsweise Auslandsreisen. Dennoch stand sie dem Regime nie nahe, war in der Kirche engagiert. Das Ende der DDR empfand sie als große Befreiung. In einigen der Texte ist von den Einschränkungen, Absurditäten und Repressionen des Lebens dort die Rede.

Edvard Munch - Morning
Edvard Munch – Morning, Public domain, via Wikimedia Commons

Viele der Geschichten fangen kleine Momentaufnahmen eines Lebens ein, werfen Schlaglichter auf bestimmte Ereignisse oder beschreiben Alltagsbeobachtungen, den Altweibersommer, den Garten, ein Frühstück. Das ist trotz des stets klaren und unpathetischen Stils oft auch von großer Sinnlichkeit. Wenn von Düften erzählt wird, von Farben, von Liedern, die man ihr gesungen hat, von der Decke, in die sie sich hineinkuschelt. Auch vom Alter ist die Rede, dem eigenen und dem des Lebenspartners, ihrem 94jährigen, pflegebedürftigen Mannes, dem Maler Johannes Helm. Viel Liebe ist hier spürbar, aber auch die Last, die die Verantwortung für ein anderes Leben bedeutet.

Das Schreiben

Immer wieder macht sich Helga Schubert in Vom Aufstehen auch Gedanken über das Schreiben. Das „Warum“ genauso wie das „Wie“. Einer der Texte ist Warum schreiben betitelt.

„Was hier ist, ist überall, was nicht hier ist, ist nirgends, soll Buddha gelehrt haben. Dieser Satz macht auch beim Schreiben Hoffnung, denn wenn er stimmt, ist nichts unwichtig, wenn ich es nur genau genug betrachte. Im kleinsten könnte ich die Gesetze des Lebens erkennen und die Lebensläufe und die Konflikte auch für Menschen weit entfernt zur gleichen Zeit oder in Jahrhunderten vergleichbar machen, verständlich.“

Aber:

„Ist es nicht anmaßend, sich so ernst zu nehmen? Woher kommt die Überzeugung, gerade diese Begebenheit könnte auch nur einen einzigen Leser, eine einzige Leserin aufhorchen lassen? Woher kommt die Kraft, um die Aufmerksamkeit dieser anderen Menschen zu bitten, ihre Zeit und ihr Interesse zu beanspruchen?“

 

„Woher kommt der Mut, diese schmale, wankende Brücke zu den Menschen, die am anderen Ufer lärmen, zu bauen, diese Brücke ohne Geländer zu betreten und hoch über dem Abgrund zu balancieren, ganz allein?“

Ich bin sehr froh, dass Helga Schubert in Vom Aufstehen diesen Mut gefunden hat. In ihren trotz der ernsten, oft auch schweren Themen immer auch humorvollen, geradezu leichten Texten steckt neben der wunderbaren Sprache auch eine ganze Menge Trost. Die letzte Geschichte, Vom Aufstehen, mit der Helga Schubert 2020 den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb gewann, kehrt zu einem Moment des nicht unbeschwerten Glücks, wie in der Anfangsgeschichte, zurück. Hier liegt die nun gealterte Autorin nach dem Aufwachen noch etwas im warmen Bett. Die Anforderungen des Alltags warten, im Nachbarzimmer der pflegebedürftige Mann. Sie aber gönnt sich noch ein paar Minuten unter der Decke, gibt sich herannahenden Erinnerungen hin. Gleich folgt der Moment des Aufstehens, ganz konkret und metaphorisch gegen die Anmutungen des Lebens. Gleich.

 

Eine weitere Besprechung auf dem Bücheratlas 

 

Beitragsbild: Henri de Toulouse-Lautrec – Woman seated in bed, Henri de Toulouse-Lautrec, Public domain, via Wikimedia Commons

 

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Helga Schubert – Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten
dtv Literatur, 224 Seiten, gebunden, 22,00 € 

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