Drei Frauen auf der Flucht in ein neues, besseres Leben. Ihre Herkunft und ihre Leben sind so unterschiedlich, aber sie eint die Hoffnung auf einen neuen Start in Europa. Auf einem illegalen Flüchtlingsboot treffen ihre Schicksale aufeinander. Louis-Philippe Dalembert, französischsprachiger Haitianer, nimmt die wahre Geschichte über die im Juli 2014 vom dänischen Öltanker Torm Lotte vor Lampedusa fast 400 geretteten Migranten zum Ausgangspunkt seiner Geschichte in Mur mediterranée, dt. etwas missverständlich Die blaue Mauer betitelt.
Dass bei der Überfahrt besagten Flüchtlingsbootes von Libyen nach Italien zwischen 150 und 200 Menschen starben – ertranken, im Frachtraum erstickten, von den Schleppern bei einem Aufstand erstochen, erschlagen oder über Bord geworfen wurden –, rückt das Thema Migration übers Mittelmeer auf beklemmende, erschütternde Weise in den Fokus.
Drei Frauen
Chochana, eine junge Nigerianerin, verlässt mit ihrem Bruder und einigen Freunden ihr Heimatland, weil eine schreckliche Dürre die Lebensgrundlagen im Norden des Landes quasi vernichtet hat. Dazu kommen religiöse Verfolgungen etwa durch Boko Haram, da Chochana Jüdin ist. Sie träumt von einem Leben im „gelobten Land“ Israel, sieht aber nur die Flucht mit Hilfe von Schlepperorganisationen, da Israel auch gegenüber Glaubensgenossen ähnlich wenig aufnahmebereit ist wie die westlichen EU-Staaten. Ihre Flucht geht über Abuja durch die Sahara nach Sabratha in Libyen, wo sie monatelang in einer Lagerhalle unter schrecklichen Bedingungen gefangen gehalten, vergewaltigt, misshandelt und ausgeplündert wird.
Hier trifft sie auf die Eritreerin Semhar. Die ist Christin und flieht vor der Diktatur Isayas Afewerkis, für die sie jahrelang Militärdienst geleistet hat und nun keine Zukunft mehr für sich sieht. Die Brutalität, mit der die Frauen in den libyschen Lagern konfrontiert sind, wurde zwar schon mehrfach, aber doch viel zu wenig in den Medien thematisiert, macht sprachlos. Die Menschen werden wie Ware behandelt, der Preis für ihre Flucht stetig nach oben getrieben.
Etwas besser geht es den zahlungskräftigen „Kunden“ der Schlepperorganisation. Die Familie der muslimischen Syrerin Dima, die vor dem sich ständig zuspitzenden Krieg in ihrer Heimat flieht, kann zusammenbleiben, lebt bis zur Abreise in einem Hotel und bekommt auch an Bord des Flüchtlingsschiffs die besseren Deckplätze, während die Afrikaner:innen im Frachtraum eingeschlossen werden. Ein heftiger Sturm macht allerdings auch hier die Überfahrt zur Hölle.
Die Luft im Frachtraum wird knapp, da sich die Überfahrt über die angekündigten sechs Stunden weit hinauszieht, die „Frachtler“ protestieren, erheben sich. Da sie im Gegensatz zu den Schleppern nicht bewaffnet sind, scheitert der Aufstand natürlich und kostet viele Todesopfer. Ein Leck im Frachtraum erfordert schließlich das Eingreifen des dänischen Öltankers.
Umsetzung nicht gelungen
Es ist ein Verdienst Louis-Philippe Dalemberts, dass er das Thema der opferreichen Flucht über das Mittelmeer und die dahinter steckenden Schicksale thematisiert. Leider ist ihm das literarisch nicht wirklich überzeugend gelungen, obwohl das Buch 2019 für den französischen Prix Goncourt nominiert war. Die Charakterisierung der Frauen bleibt sehr stereotyp. Besonders die Syrerin Dima, die mit menschenverachtendem Hass auf die in ihren Augen minderwertigen Afrikaner:innen schaut, ist recht plakativ gestaltet. Auch sprachlich überzeugt der Text nicht. Der geradezu zwanghafte Gebrauch alternativer Nomen (sie, die Nigerianerin, die junge Frau, die Jüdin, die Freundin usw.) klingt eher nach Schulaufsatz als nach literarischem Text. Was zusätzlich sehr ärgerlich ist, ist die wirklich schlampige Korrektoratsarbeit. Ich habe wirklich schon lange keinen Text mit derart vielen Druckfehlern gelesen. Schade, denn das Thema hätte einen sorgfältigeren Umgang damit verdient.
Eine weitere Besprechung findet ihr bei Letteratura
Beitragsbild: by Alessandro Pisani (CC BY-NC-ND 2.0) via Flickr
___________________________________________________
*Werbung*
.
Louis-Philippe Dalembert – Die blaue Mauer
Übersetzt von Christine Ammann
Nagel & Kimche, 320 Seiten, Hardcover, € 24,00
Gerade habe ich versucht, meine Gedanken zu dem Buch aufzuschreiben, da kommt Deine Rezension… Der ich fast nichts hinzufügen kann, ich teile Deine Kritik absolut. Schade. Ich frage mich, ob das Original sprachlich einheitlicher und gelungener ist, oder ob die Nominierung für den Prix Goncourt doch eher dem Thema zu verdanken ist…
Und der Gebrauch der alternativen Nomen ist wirklich zwanghaft!
Das mit dem Prix Goncourt hat mich auch verwundert. Ich muss aber sagen, dass die schon öfter mal danebenlagen (wenn man mich fragt; tut aber ja leider keiner 😉 ) Schön, dass dir das mit den Nomen auch aufgefallen ist. Ich musste da teilweise schon drüber lachen. Bekommen die Kinder in der Schule ja immer gesagt: Benutz alternative Nomen! (Hihi)
Zum Prix Goncourt fallen mir grade fast keine Beispiele ein… da werde ich mal drauf achten. Ja, das war sehr auffällig und es wirkte sehr ungelenk fand ich.