Ein wenig erfreulicher Mai ist zu Ende gegangen. Viel Regen, wenig Sonne, kühl bis kalt. Der Juni hat bereits viel freundlicher begonnen. Neben ein paar Sommertagen bringen auch positive Entwicklungen bei der Corona-Lage hoffnungsvolle Gefühle. Nur meine Lektüre war im Mai 2021 wirklich sehr zufriedenstellend.
Auch die Leipziger Buchmesse hat das Beste aus der nun schon zweiten Absage gemacht und mit Leipzig liest ein wirklich umfangreiches Programm auf die Beine gestellt, das neben digitalen Veranstaltungen Dank der Lockerungen auch einige Vor-Ort-Veranstaltungen bieten konnte. Leider spielte das Wetter wohl nicht so ganz mit. So habe ich es tatsächlich ein wenig genossen, viele Veranstaltungen von Donnerstag bis Samstag vom heimischen Sofa aus mitverfolgen zu können. Shida Bazyar, Mithu Sanyal, Matthias Jügler, Sharon Dodua Otoo und Christoph Hein waren einige der Autor:innen, denen ich so zuhören konnte. Auch die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse habe ich so verfolgt. War irgendwie auch schön. Aber bitte, bitte, nächstes Jahr wieder vor Ort!
Aber nun zu meiner Lektüre im Mai 2021.
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Jurica Pavičić – Blut und Wasser
Ein spannender Roman des kroatischen Autors, den ich mit seinen Erzählungen Fremde Helden kennengelernt habe.
Im September 1989 verschwindet ein junges Mädchen von einem Sommerfest in einem kleinen Städtchen nahe Split. Die Suche verläuft ergebnislos, Zeugen wollen sie am internationalen Busbahnhof gesehen haben. Nur die Familie, besonders ihr Zwillingsbruder geben die Hoffnung nicht auf, suchen weiter, stellen Nachforschungen an. Zwischenzeitlich zerbricht die Jugoslawische Föderation, Kriege überziehen das Land, der Tourismus zerstört langsam die Küstenregion. Die Handlung erstreckt sich bis in die unmittelbare Gegenwart und behält ihre Spannung. Krimiplot, Familienroman und Geschichte Kroatiens verbinden sich auf interessante Weise. Sehr empfehlenswert!
Helga Schubert – Vom Aufstehen
In 29 kurzen Texten erzählt Helga Schubert vom Leben. Mit der letzten, titelgebenden Geschichte gewann sie 2020 als bereits 80jährige den Ingeborg Bachmann Preis in Klagenfurt. Eine Sensation.
29 Texte über ihr Leben als Kriegs- und Flüchtlingskind und Kind der deutschen Teilung. Übers vaterlose Aufwachsen, die schwierige Beziehung zur Mutter, Sommer bei der liebenden Großmutter, Leben als kritische Intellektuelle in der DDR. Sie erzählt von ihrem Schreiben, dem Leben in einem Dorf und dem Alltag mit ihrem pflegebedürftigen Mann.
Poetisch verdichtet, bei aller Schwere des Erzählten heiter und dem Leben zugewandt. Ein schönes Buch.
Louis-Philippe Dalembert – Die blaue Mauer
Der Haitianer Louis-Philippe Dalembert wählt drei Frauen als Protagonistinnen seines Romans von der großen Flucht übers Mittelmeer. Nigeria, Eritrea und Syrien sind ihre Heimatländer; Judentum, Christentum und Islam ihre Religionen; sehr unterschiedlich auch ihre Herkunft und ihr Weg. Dalembert lässt sie auf einem Flüchtlingsschiff, das ein reales Vorbild hat, aufeinandertreffen. Die gefährliche Überfahrt, inkl. Sturm und Havarie, haben sie gemeinsam. Das bringt sie sich aber nicht näher.
So richtig konnte mich das Buch nicht überzeugen. Zu stereotyp waren doch die Figuren und viele erzählte Aspekte. Dennoch ein wichtiges Buch, viel zu selten wird von diesen verzweifelten Fluchtbewegungen immer noch literarisch erzählt.
Yulia Marfutova – Der Himmel vor hundert Jahren
Ein origineller Debütroman der 1988 in Moskau geborenen Autorin, die in Deutschland Germanistik studierte und heute in Boston lebt. Ein historischer Plot über das Einbrechen der Moderne in ein kleines russisches Dorf, über Aberglaube und Wissenschaft, eine leicht skurrile Dorfgemeinschaft und die großen historischen Schatten in Form von Krieg, Revolution und Bürgerkrieg. Ein ganz eigener, zeitweise sehr witziger Ton konnte mich überwiegend begeistern. Teilweise ging mir die Geschichte ein wenig zu langsam voran. Es gibt durchaus aktuelle Bezüge und eine sehr gelungene Sprache. Empfehlung!
Bereits im letzten Jahr war der Roman der kanadischen Autorin angekündigt worden. Der Wegfall des Gastlandauftritts Kanadas zur Frankfurter Buchmesse führte zum Verschieben des Veröffentlichungstermins. Ich hoffe, dass der Roman dadurch die verdiente Aufmerksamkeit erhält. Ich fand die Geschichte äußerst eindringlich.
Ort und Zeit des Geschehens sind fiktiv und ein wenig dystopisch, erinnern aber stark an das US-amerikanisch-mexikanische Grenzland. In der Wüste hier versuchen vor allem minderjährige „braune“ Jungen, in den verheißungsvollen Norden zu gelangen. Nicht nur eine im Bau befindliche Mauer versperrt ihnen den Weg, sondern auch die heiße, menschenfeindliche Wüste. Schleuser verdienen sich ihr Geld mit den Migrationswilligen, lassen sie nicht selten in der Wüste zurück und schicken sie damit in den sicheren Tod. Kopfgeldjäger jagen diejenigen, denen die Flucht dennoch gelungen ist, misshandeln, quälen sie und kassieren von staatlichen Behörden Prämien. In dieser Szenerie treffen eine Weiße auf der Suche nach ihrer in der Wüste verschwundenen Mutter und ein junger Migrant, der nun auch als Schleuser arbeitet, aufeinander. Dazu kommt die alte Hündin der Mutter, die eine eigene Perspektive erhält. Atmosphärisch stark und spannend!
Jacqueline Woodson – Alles glänzt
Jacqueline Woodson ist vor allem als Kinder- und Jugendbuchautorin bekannt. Ihr erster Roman für ein etwas älteres Publikum war Ein anderes Brooklyn, das mich völlig begeistert hat. Auch in ihrem neuen Buch „Alles glänzt“ stehen wieder sehr junge Protagonist:innen im Mittelpunkt. Es geht um Teenagerschwangerschaft, Familie, Schwarze Communities, Rassismus, Klassismus und ist wieder sehr gut erzählt. Jacqueline Woodson schreibt im bekannten sparsamen, poetischen Ton. Die locker bedruckten, im eher unüblichen Flattersatz gesetzten Seiten versprühen wieder eine große Unmittelbarkeit, in die man hineingesogen wird. Das Buch ist mit 202 Seiten etwas umfangreicher als der Vorgänger, für die Fülle der angesprochenen Themen ist es aber dennoch kurz. Diese Verknappung und Verdichtung erhöht die Intensität des Textes, den ich allen unbedingt ans Herz lege. Nicht ganz auf dem Niveau des Vorgängers, aber immer noch ein herausragender Roman
Ibrahima Balde/Amets Arzallus – Kleiner Bruder
Ein weiterer Roman über die Flucht von Afrika nach Europa. Es ist die Geschichte von Ibrahima Balde, der von Guinea ins Baskenland gelangt, wo der Journalist Amets Arzallus seine Geschichte aufschreibt. Eine berührende Geschichte von der Suche nach seinem jüngeren Bruder, der sich nach Europa aufmacht, in den berüchtigten libyschen Lagern landet und von dem fortan jede Spur fehlt. Ibrahima folgt seinem Weg und lernt selbst die Gefahren und Härten der Wüstendurchquerung und der verzweifelten Suche nach einer Überfahrtmöglichkeit über das Mittelmeer kennen. Niedergeschrieben wie sie erzählt wurde, hat die Geschichte eine eindringliche Unmittelbarkeit.
Gelungene Charakterstudien in historischem Setting zeichnen viele Romane des irischen Autors Sebastian Barry aus. Das war schon in Tausend Monde so, das im 19. Jahrhundert in den USA spielte. Annie Dunne erzählt nun ein Frauenschicksal im Irland der 1950er Jahre und ist ein früherer Roman Barrys (2002). Sehr zu begrüßen, dass ihn der Steidl Verlag nun auf Deutsch veröffentlicht. Annie Dunne ist eine ältere, schroffe Frau, die bei ihrer Cousine Sarah untergekommen ist, nachdem sie ihr Schwager nach dem Tod der Schwester vor die Tür gesetzt hat. Mittellos, unverheiratet, unausgebildet wäre ihr sonst vielleicht nur das „Armenhaus“ geblieben. Toll, wie der Autor in diese Figur hineinschlüpft.
Robin Robertson-Wie man langsamer verliert
Ein sehr bemerkenswerter Roman, der 2018 auf der Shortlist zum Booker Prize stand und ein Erzählpoem ist. Durchaus fordernd in Stil und Inhalt entwickelt die Geschichte um Walker, einen Kriegsheimkehrer mit traumatischen Erinnerungen, der weder in New York noch in Los Angeles so richtig Fuß fassen kann, einen bezwingenden Sog. Erinnerungsfetzen, Wahrnehmungssplitter der Stadt und ihrer Veränderungen, sozialrealistische Schilderungen aus den Tiefen der US-amerikanischen Gesellschaft werden mit Filmszenen und Musikimpressionen in einem ganz eigenen Rhythmus verbunden. Ein wirklich starkes Stück Literatur für mutige Leser:innen.
Das waren meine Bücher für die Lektüre im Mai 2021. Mal schauen, ob uns der Juni mehr Lesestunden unter freiem Himmel mit Wärme und Sonne beschert. Ich wünsche euch so oder so eine schöne Zeit!