Die kanadische Autorin Nadia Bozak arbeitet an einer Trilogie namens Border Trilogy. Manch einer mag da aufhorchen. Ja, es gibt eine gleichnamige Romanserie des amerikanischen Autors Cormac McCarthy: Alle hübschen Pferde, Der Grenzgänger und Land der Freien. Ähnlichkeiten und Bezüge sind offensichtlich. Mit Der Junge wird nun der zweite Teil dieser (geplanten) Trilogie von Nadia Bozak auch auf Deutsch veröffentlicht.
Während im ersten Teil (Orphan love) der Grenzübertritt von Kanada in die USA in Form einer Kanufahrt entlang des Sankt Lorenz Stroms geschildert wird, rutscht Nadia Bozak mit Der Junge ein ganzes Stück nach Süden und damit in das Handlungsgebiet von Cormac McCarthy. Anders als dieser schafft die kanadische Autorin aber eine fiktive Wüstenlandschaft, die allerdings sehr an die mexikanische Grenzregion erinnert. Die Oro-Wüste könnte ihr Vorbild in der Chihuahua-Wüste und der Grenzfluss Rio Loco im Rio Grande gefunden haben. Allen gemeinsam ist die unendliche Weite, Dürre, Erbarmungslosigkeit von Landschaft und Natur.
Die Grenze überwinden
Ähnlich unbestimmbar wie der Ort ist die Zeit, in der Nadia Bozak Der Junge spielen lässt. Eine Grenzmauer ist dort im Bau, es ist eindeutig eine gegenwärtige Umgebung. Allerdings fehlen wichtige Marker: es scheint keine Handys zu geben, von Internet ist nirgendwo die Rede. Das ist erzähltechnisch von enormer Bedeutung, denn Unerreichbarkeit ist ein zentraler Bestandteil der Erzählung.
Während also die omnipräsente Erreichbarkeit fehlt, erinnern doch viele Dinge an unser Heute. Da ist zunächst die große Migrationsbewegung von Süden nach Norden. Unzählige, zumeist minderjährige, spanischsprachige Jungen, „pollos“ oder wenn noch sehr jung „pollitos“ genannt, versuchen den Grenzübertritt, um im Norden auf Farmen Geld zu verdienen. Es wird angedeutet, dass in früheren Zeiten die Eltern nach Norden strömten. Und nun folgen ihnen die Kinder, die es bisher bei ihren Großeltern mehr schlecht als recht ausgehalten haben.
Die „braunen“ Jungen
Grimmige Grenzbeamte verwehren den Kindern das Überschreiten der Grenze. Sie werden gefangen und zurückgeschickt, sollte es ihnen doch einmal gelingen. Zugleich profitieren die Farmer im Norden von denen, die es geschafft haben, dorthin zu gelangen. Sie werden fast wie Sklaven gehalten und verrichten zu Hungerlöhnen harte Feldarbeit. Der Wohlstand der Gegend wäre ohne diese billigen Arbeitskräfte kaum zu halten. Der Zynismus der Situation ist offensichtlich und nicht sehr weit von der heutigen Situation entfernt. Denn natürlich werden die „braunen Jungen“ trotzdem verachtet und diskriminiert. Offiziell will sie keiner haben, da sie den Einheimischen die Arbeit wegnehmen würden.
So weit, so realistisch. Bald schon kulminiert die geschilderte Situation aber. Offensichtlich werden die Jungen, die es geschafft haben, meist mit Hilfe von teuer bezahlten Schleppern, „Kojoten“ genannt, die Grenze zu überschreiten, häufig in der Oro-Wüste sich selbst überlassen. Viele sterben dort, andere werden von „Kopfgeldjägern“ gefangen, brutal misshandelt und für 50 Dollar Prämie den Grenzbeamten ausgeliefert. Und von dort wieder in ihr Heimatland zurückgeschickt. Diese Kopfgeldjäger sind oft ehemalige „pollos“, die nun selbst mit unglaublicher, menschenverachtender Brutalität handeln und die flüchtenden mit ihren Wüstenbuggies jagen.
Dystopie
Spätestens hier horcht man auf. Hat das gänzliche Fehlen der heute so unabdingbaren Mobiltelefone schon ein wenig irritiert, begreift die Leserin, dass man sich hier in einer erschreckend nahen, aber doch noch dystopischen Zeit befindet. Gleichzeitig rücken damit die Geschehnisse rund um den Globus umso näher. Genauso wie die Migration an der mexikanischen Grenze, könnte hier das Lager in Libyen oder die Flucht übers Mittelmeer stehen. Die Fluchterfahrungen und der Zynismus ähneln sich.
In Der Junge wählt Nadia Bozak drei Protagonisten, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird. Da ist einmal der 12jährige Chavèz, der seine Großmutter im Süden verließ, um seine schon lange nach Norden gezogene Mutter zu suchen und um Geld zu verdienen. Er geht den oben skizzierten Weg. Dann ist da Honey, eine Städterin, deren Mutter Marianne vor einigen Jahren in die Oro-Wüste gezogen ist. Sehr zurückgezogen lebt sie in einem Trailer und malt. Nun hat Honey schon einige Zeit nichts von ihr gehört und fährt deswegen zu ihr, findet den Trailer aber verlassen vor. Sie macht sich auf die Suche nach ihr, hat aber in der Wüste eine sehr unschöne Begegnung, die in einen Unfall mündet. Auf dem Weg, Hilfe zu suchen, begegnet sie Chavèz. Die dritte Protagonistin ist Baez, die Hündin von Marianne. Auch sie ist auf der Suche nach ihrer Herrin.
Drei Perspektiven
Diese drei Perspektiven sind nun aber nicht einfach so nebeneinander her erzählt, sondern folgen einer sehr eigenwilligen, aber faszinierenden Choreografie. Sie alle bewegen sich auf unterschiedlichen Zeitleisten, die sich erst am Ende wieder treffen. Vorher überschneiden sie sich teilweise, widersprechen sich andererseits und verwirren zunächst. Es braucht ein wenig, sich da hinein zu finden. Das Durchhalten lohnt sich aber unbedingt.
Nadia Bozak erzählt eine gewalttätige, harte und tragische Geschichte. Auch darin gleicht sie Cormac McCarthy. Ihre Schilderungen der Wüste sind unglaublich schön, aber völlig unromantisch. Die gnadenlos brennende Sonne, die Hitze und Trockenheit, der Durst, die Leere der Landschaft und die Abgestumpftheit der Menschen – das Unerbittliche der Geschichte fesselt. Die Tragik berührt. Ein Text aus Kanada, der so gänzlich anders als erwartet war, aber sehr überzeugt hat.
Der im Original angekündigte dritte Teil der Trilogie soll wohl eine Neufassung Von Joseph Conrads Herz der Finsternis werden. Das klingt spannend. Zunächst einmal hoffe ich aber darauf, dass der erste Teil Orphan love auch ins Deutsche übersetzt wird. Vielleicht verhilft der Gastlandauftritt Kanadas diesen zugegeben anspruchsvollen Texten zu der verdienten Beachtung.
Eine weitere begeisterte Stimme gehört Constanze auf Zeichen und Zeiten
Beitragsbild: by Anthony Trumbo (CC BY-NC 2.0) via flickr
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Nadia Bozak – Der Junge
Aus dem Englischen von Gregor Runge
Karl Rauch Verlag April 2021, 352 Seiten, gebunden, € 22,00
Ich habe dieses großartige Buch sehr sehr gern gelesen und schreibe gerade an meiner Besprechung. Ich wundere mich, dass dieser Roman bisher noch kaum mediale Aufmerksamkeit seitens der Kritiker erhalten hat. Eine Dystopie kann ich indes in dem Buch nicht erkennen – auch mit Blick auf die Beschreibung des normalen Stadtlebens gegen Ende des Buches. Warum keine Handys erwähnt werden (dafür aber an einer Stelle eine Photovoltaik-Anlage), erkläre ich mir mit dem Umstand, dass es in vielen Wüsten keinen Handyempfang gibt. Einen Link setze ich gern. Viele Grüße
Ja, mediale Aufmerksamkeit wäre verdient. Wir müssen da noch ein wenig trommeln ;). Das dystopische war für mich, dass hier ganz kleine Kinder (acht, zehn, zwölf) ihren Eltern, die in den Norden emigriert sind, allein nachgereist sind (scharenweise) und die staatlich geförderte Kopfgeldjäger in der Wüste mit ihren brutalen Methoden gibt es auch (noch) nicht. (auch wenn es tatsächlich in den USA Kopfgeldjäger gibt; bisher aber wohl noch nicht gegen illegale Migranten). Vielleicht bin ich auch zu naiv, aber ich hoffe, das alles ist doch (noch) ein wenig dystopisch. Liebe Grüße!