Spätestens nach den massiven Migrationsbewegungen der Jahre 2015 und 2016 sind die weltweiten Fluchtrouten, auf denen sich heute mehr Menschen als je bewegen – man schätzt die Zahl der sich Ende 2019 auf der Flucht befundenen Menschen laut UNO Flüchtlingshilfe weltweit auf ca. 79,5 Millionen, davon ein Drittel, die ihr Land verlassen haben -, auch dem Laien bekannt. Von der Balkanroute, die bald durch zahlreiche Grenzschließungen erschwert und verlagert wurde, drangen unzählige Fernsehbilder in die heimischen Wohnzimmer. Und immer wieder erreichen uns auch dramatische Bilder von havarierten Booten auf dem Mittelmeer. Nachdem 2015/16 die östliche Mittelmeer-Route die meist frequentierte war, rückt die zentrale und westliche Mittelmeer-Route von Nordafrika nach Lampedusa und Sizilien oder nach Spanien wieder in den Vordergrund. Auch Ibrahima Balde hat diesen Weg genommen und dem baskischen Journalisten Amets Arzallus von seiner Flucht erzählt, der daraus das berührende Buch Kleiner Bruder machte.
Das Leben in Guinea
Ibrahima ist nicht der klassische Migrant, denn eigentlich wollte er nie nach Europa. Er lebte in seinem Heimatland sehr bescheiden, aber schlug sich durch. Geboren wurde er im kleinen Dorf Thiankoi im Landesinneren, wo er mit seiner Mutter, zwei Schwestern und dem kleinen Bruder Alhassane bis zu seinem fünften Lebensjahr lebte. Danach nahm ihn der Vater zu sich in die Hauptstadt Conakry, wo er bis zur sechsten Klasse die Schule besuchen konnte. Als er dreizehn war, starb der Vater und Ibrahima fiel als ältestem Sohn die Rolle des Ernährers zu. Eine Weile arbeitete er in Liberia, u.a. in einer LKW-Werkstatt. Dann erkrankte seine Mutter schwer und er kehrte heim nach Thiankoi. Bald schon erkannte er aber, dass es hier für ihn keine Zukunft gab.
Zurück in Conakry fand er eine Anstellung als LKW-Fahrer, eine Arbeit, die ihn zufrieden machte, ihm und seiner Familie ein Auskommen bot. Eines Tages bekam er einen Anruf seiner Mutter, die das Verschwinden seines kleinen Bruders Alhassane beklagte. Offensichtlich befand er sich auf dem Weg nach Europa und steckte in einem Lager in Syrien fest. Ibrahima war klar, dass er seinen Bruder finden und wieder nachhause bringen muss.
Auf der Suche nach dem kleinen Bruder
Und hier beginnt der lange Weg, der Ibrahima Balde auf der Suche nach Kleiner Bruder schließlich ins spanische Baskenland führt, wo er 2018 seine Geschichte dem Journalisten und Bertsolari (eine Art volkstümlicher baskischer Poetry slam) Amets Arzallus erzählt. Der schreibt sie in Baldes Worten und ganz eigener Erzählrhythmik auf. Das ist unmittelbar, ergreifend, direkt.
Oft vergisst man angesichts der Tragödien, die sich auf dem Mittelmeer abspielen, und den unsäglichen Auseinandersetzungen über die Seenotrettung, dass viele der Migranten, bevor sie die gefährliche Mittelmeerüberfahrt antreten, schon eine wahre Odyssee hinter sich haben. Der Weg aus Schwarzafrika, den auch Ibrahima genommen hat, führt über Mali oder Niger nach Algerien und Libyen, quer durch die Sahel Zone und die Sahara-Wüste. Eine nicht nur lange Strecke, die per Bus, Mitfahrgelegenheit oder auch zu Fuß bewältigt werden muss. Das alleine wäre schon eine herausfordernde und gefährliche Angelegenheit. Hinzu kommen scharfe Grenzkontrollen, korrupte staatliche Stellen und ein kriminelles Netzwerk von Schmugglern, Menschenhändlern und Milizen. Die Menschen auf der Flucht – und hier ganz besonders Frauen – erfahren teils unaussprechliche Brutalität und Unmenschlichkeit. Hierzu gibt es einen interessanten Bericht der UNO Flüchtlingshilfe. (https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/mediathek/artikel/unhcr-bericht-on-this-journey-no-one-cares-if-you-live-or-die)
Wüste, Lager, Mittelmeer
Der Teil, der es durch die Wüste schafft (man vermutet, dass ähnlich viele Menschen bei der Wüstendurchquerung sterben wie im Mittelmeer), landet, wenn er Glück hat in Algerien, Marokko oder Tunesien, wenn er weniger Glück hat, in Libyen. Dort wurden bereits seit Anfang des Jahrtausends mit italienischer Unterstützung riesige Flüchtlingslager errichtet. Viele Libyer befinden sich selbst auf Binnenflucht. In den Lagern herrscht seit dem Sturz Muhammar al-Gaddafis staatliches Chaos.
Man berichtet von Folter, schwerer Gewalt und sexuellen Übergriffen zuhauf. Flüchtlinge werden durch Zwangsarbeit ausgebeutet oder weiterverkauft, sämtlicher Wertsachen beraubt und bei Fluchtversuchen getötet. Von den entsetzlichen hygienischen Bedingungen und der mangelhaften Versorgung gar nicht geredet. Die Zustände sind bekannt und können überall nachgelesen werden. Vor diesem Hintergrund die Seenotrettung zu beschränken und Flüchtende nach Libyen zurückzuschicken spricht von unglaublicher Menschenverachtung. Auch das machen Ibrahima Balde und Amets Arzallus mit ihrem Kleiner Bruder eindrücklich deutlich.
Bücher wie dieses sind wichtig. Literarisch ist das Buch nicht durchgearbeitet. Arzallus zeichnet die mündliche Erzählung authentisch auf. Das macht sie umso ergreifender.
„Jetzt weiß ich es, das Meer ist kein Ort, um sich hinzusetzen.“
Ibrahimas Weg ist noch nicht zu Ende. Gut, dass er Amets Arzallus getroffen hat, der seiner Geschichte einen Raum gegeben hat.
„Manchmal frage ich mich, ob es mir gelingen wird, das zu vergessen. Denn der Kopf ist wie ein Schrank, und um etwas aus dem Schrak herauszuholen, musst du eine andere Sache hineinstellen. Weil das Neue den Platz des Alten einnimmt. Aber ich mache nichts, während sie hier über mein Asyl entscheiden. Ich habe keine Arbeit, keine Freunde, ich habe nichts, was ich in den Schrank stellen könnte.“
Beitragsbild: by Oxfam International (CC BY-NC 2.0) via flickr
_____________________________________________________
*Werbung*
.
Ibrahima Balde, Amets Arzallus – Kleiner Bruder
Aus dem Baskischen von Raul Zelik
Suhrkamp Mai 2021, fester Einband, 139 Seiten, € 14,00