Sebastian Barry – Annie Dunne

Annie Dunne ist keine wirklich sympathische Person. Schroff, abweisend und in allerlei Vorurteilen verfangen erscheint sie ihrer Umwelt. Sebastian Barry wäre aber nicht der großartige Menschenporträtist (wie auch in Tausend Monde) , der er ist, wenn es hinter der rauen Schale von Annie Dunne nicht ganz anders aussähe. Der Steidl-Verlag veröffentlicht den zweiten Roman des irischen Schriftstellers von 2002 in einer gewohnt schönen, nein, in einer ganz besonders schönen Leinenausgabe.

Es ist das Jahr 1959. Annie, ein Abkömmling der Familie Dunne, der Sebastian Barry so wie der Familie McNulty schon einige Romane gewidmet hat, lebt seit ein paar Jahren bei ihrer Cousine Sarah auf dem kleinen Hof in Kelsha am Rande der Wicklower Berge. Hier hat Annie ein Unterkommen gefunden, nachdem sie von ihrem Schwager Matt quasi vor die Türe gesetzt wurde. Nach dem frühen Tod ihrer Schwester Maud, um deren drei Söhne sich Annie jahrelang wie eine Art Kinderfrau gegen Kost und Logis gekümmert hat, hat dieser eine neue Frau gefunden und für Annies „Dienste“ keine Verwendung mehr. Selbst hatte Annie nie eine Beziehung, das mag an ihrer schroffen Art liegen oder aber an den körperlichen Beeinträchtigungen nach einer Polioerkrankung in der Kindheit. Eine Ausbildung war für Mädchen in den 1950er Jahren keine Selbstverständlichkeit.

Leben im Farmhaus

Annies große Angst war und ist, in dieser Situation unversorgt in der „Anstalt“ zu landen. Das war oft der einzige Ausweg für unverheiratete, unversorgte Frauen früherer Zeiten. Und Endstation auch für Annies eigenen Vater, der dort in geistiger Umnachtung und in einigem Elend starb. Ein Ende, für das sich die nun fast sechzig Jahre alte Frau immer noch Vorwürfe macht und das für sie den blanken Horror darstellt. Umso dankbarer ist sie ihrer Cousine, der sie auch sehr zugetan ist. Ihr Zusammenleben mit einer Reihe von Hühnern, Kühen und einem störrischen Pony verläuft insgesamt sehr harmonisch, ruhig und beglückend.

Ein wenig Leben kommt zu Anfang des Sommers ins kleine Farmhaus, als die Kinder von Annies Neffen Trevor für einige Wochen zu Besuch sind. Der vierjährige Junge und das sechsjährige Mädchen halten die beiden älteren Damen ordentlich auf Trab, bringen aber auch viel Fröhlichkeit ins Haus. Leider gibt es aber auch Schatten, die auf die Tage fallen, da Sarah sich mit dem Gedanken trägt, dem Werben des Farmarbeiters Billy Kerr nachzugeben und auf ihre alten Tage noch einmal zu heiraten. Annie Dunne sieht dadurch ihren erhofften ruhigen Lebensabend bedroht.

Großartiges Porträt

Sebastian Barry vermag es wieder hervorragend, die ambivalenten Charaktere seiner Protagonisten zu durchleuchten. Genau, aber immer mit viel Wärme und Sympathie. Dabei gelingt es ihm vortrefflich in die Haut einer älteren Dame der letzten Jahrhundertmitte zu schlüpfen. Wie gut ihm diese Einfühlung in völlig verschiedene Figuren gelingt konnte man schon in seinem jüngstem Roman Tausend Monde von 2020 erfahren. Außerdem ist Sebastian Barry ein Meister im Aufbau von Atmosphäre. Das Leben im ländlichen Irland vor mehr als sechzig Jahren wird spürbar, erlebbar.

Annie Dunne ist ein früherer Roman des 1955 geborenen Sebastian Barry, zeigt ihn aber bereits auf der Höhe seiner Kunst.

 

Marius (Buch-Haltung) und Astrolibrium haben das Buch ebenfalls besprochen.

 

Beitragsbild: by Charles Roffey (CC BY-NC-SA 2.0) via Flickr

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Sebastian Barry - Annie Dunne.

Sebastian Barry – Annie Dunne
Steidl März 2021,280 Seiten, Leineneinband, € 24.00
1. Auflage 03/2021Übersetzt durch Hans-Christian Oeser und Claudia Glenewinkel

 

3 Gedanken zu „Sebastian Barry – Annie Dunne

  1. Ich habe es mir gekauft und auch sofort in einem Rutsch gelesen . So dicht und treffend wird die damalige Zeit beschrieben . Mit ganz viel Menschenkenntnis vom Autor verfasst . Ich bin begeistert – auch von Deiner Rezension ?! LG Angela

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