Lektüre Juni 2021

Die Frühjahrsneuerscheinungen sind bald ausgelesen, den Juli über werden sie mich aber noch begleiten. Es waren im ersten Halbjahr 2021 viele sehr gute Bücher dabei, das eine, herausstechende Highlight aber bisher nicht. Das gilt auch für meine Lektüre im Juni.

Im Debütlesekreis haben wir schon einige Kandidaten für den Bloggerpreis angelesen, auch da gute Bücher drunter, aber außer Esther Becker – Wie die Gorillas hat mich auch keines nachhaltig beeindruckt. (Das ging meinen Mitlesenden mit Adas Raum ganz anders. Ich mochte das Buch aber nicht besonders).

Vielleicht ist Shida Bazyar – Drei Kameradinnen das Buch, das mich bisher am meisten beeindruckt und überrascht hat.

Aber auch die Lektüre im Juni 2021 hatte einige sehr gute Titel zu bieten.

Brandon Taylor - Real Life

Brandon Taylor – Real Life

Allein unter Weißen – so fühlt sich der Biochemie-Doktorand Wallace. Aus eher ärmlichen Verhältnissen, in denen auch Gewalterfahrungen eine Rolle spielten, stammend, schwul und Schwarz, ist er an der Universität im Mittleren Westen der USA und in seinem Fachbereich ein Außenseiter. Auch wenn sein Freundeskreis sich äußerst liberal fühlt, spürt Wallace die Ausgrenzung und subkutane Herablassung. Mit Miller beginnt er eine eher toxische Affäre.

Die äußere Handlung umfasst ein einziges Wochenende am See unter Freunden, die alle irgendwie darauf zu warten scheinen, dass das „echte Leben“ endlich beginnt. Sensibel beobachtet und sprachlich gekonnt umgesetzt: ein tolles Debüt, mit dem Brandon Taylor 2020 die Shortlist des Booker Prize erreichte.

 

Ali Smith Frühling

Ali Smith – Frühling

Die Jahreszeiten-Tetralogie von Ali Smith wird nach Herbst und Winter mit mit Frühling fortgesetzt.

Es gibt wenige Autor:innen, die so geistreich und spielerisch mit ihrem Romanstoff umgehen wie die Schottin Smith. Als aktuelle Reaktion auf den Zustand Großbritannien nach dem Brexit konzipiert, haben sie doch nichts von ihrer Aktualität verloren. Mit zahlreichen Bezügen zu Literatur und Kunst arbeitend, sind die Romane so komplex wie lesbar.

In Frühling erscheint ein kleines Flüchtlingsmädchen und bringt so manches wie eine Engelsgestalt wieder in Ordnung. Aber wie das mit modernen Märchen so ist, ist ihre Macht im Heute leider nicht unbegrenzt. Ich liebe diese Reihe.

 

Marcel Proust Der gewendete Tag

Marcel Proust – Der gewendete Tag

Am 10. Juli ist der 150. Geburtstag von Marcel Proust. Und wer schon immer mal Proust lesen wollte, aber von der schieren Fülle der Recherche bisher doch zurückgeschreckt ist, dem bietet der Manesse Verlag ein besonders schön gestaltetes Buch mit 19 Prosastücken, die von 1912 bis 1923 in verschiedenen Zeitschriften erschienen und laut Verlag ein „Destillat“, einen „komprimierten Proust“ bieten. Ich lese mich nun so langsam durch diese Auswahl und genieße die Sprache und Langsamkeit von Prousts Erzählen, ohne die 156 Stunden, die die gesamte Recherche laut ungekürztem Hörbuch erfordern würde, fürchten zu müssen.

Ich bin ganz ehrlich, ich bin mir nicht sicher, ob ich dieses Großprojekt jemals in Angriff nehmen werde. In diesem schönen, handlichen Buch zu blättern, stöbern, sich festzulesen, ist aber großeartig.

 

james-baldwin-ein-anderes-land

James Baldwin – Ein anderes Land

Die Wiederentdeckung von James Baldwin für den deutschen Buchmarkt und die deutschen Leser:innen ist eine der tollsten Entwicklungen der letzten Jahre. Zu dieser Renaissance beigetragen hat sicher der hervorragende Dokumentarfilm I Am Not Your Negro von Raoul Peck. Seit 2019 erscheinen im dtv Verlag die Romane und Essays des 1983 verstorbenen US-amerikanischen Autors in schön gestalteten und von Miriam Mandelkow glänzend neu übersetzten Ausgaben.

Mit dem 573 Seiten starken, 1962 im Original erstmals erschienenen Ein anderes Land habe ich mich trotz meiner Baldwin-Begeisterung eher schwer getan. Ein Reigen junger Menschen im Greenwich Village – ein Schwarzer, lebensmüder Musiker, seine Schwester Ida, sein überwiegend weißer Freundeskreis rund um Vivaldo, Eric, Richard, Cass – ein Reigen, vielfältige Liebesaffären, Homosexualität, Bisexualität, eine zerbrechende Ehe. Leider finde ich fast nichts so langweilig wie Sexszenen, besonders wenn sie arg detailliert und explizit sind und noch dazu ziemlich pathetisch beschrieben. Davon bietet Ein anderes Land reichlich. Zur Entstehungs- und Erstveröffentlichungszeit war das sicher provokant, gewagt, mutig. Aber mal ehrlich, wer mag heute noch solche Sätze lesen:

„Und sie stöhnten. Bald, flüsterte Yves; er klang beharrlich, wie ein Kind, mit schrecklichem Bedauern. Bald. Erics Hände und Mund öffneten sich, schlossen sich auf dem Körper seines Liebsten, ihre Körper strebten noch enger zusammen, und Yves Körper bebte, und er rief Erics Namen, wie noch niemand diesen Namen gerufen hatte. Eric. Eric. Eric. Sein Atem erfüllte Eric, schwerer als das ferne Rollen des Meeres.“

Leider sind solche Abschnitte hier keine Seltenheit. Das nehme ich besonders übel, da James Baldwin ein ganz ähnliches Thema – schwule Liebe im Spannungsfeld zwischen Schwarz und Weiß – in Giovannis Zimmer so viel komprimierter und berührender behandelt hat. Und weil andere in Ein anderes Land behandelte Themen wie Rassismus, Schwarzer Selbsthass, weiße Selbstherrlichkeit, (Un)möglichkeiten der Verständigung dahinter verloren zu gehen drohen.

James Baldwin ist ein beeindruckender, ein großartiger Autor. Sein Eintreten für eine Verständigung zwischen Schwarzen und Weißen, gegen Rassismus, für eine selbstbestimmte Sexualität ist ein Meilenstein, seine Romane Von dieser Welt und Beale Street Blues großartig und der Essayband Nach der Flut das Feuer mit das Beste, was zum Thema Rassismus geschrieben wurde. Und auch in Ein anderes Land gibt es großartige, nahezu atemberaubende Szenen, zum Beispiel der Selbstmord von Rufus. Nur leider muss man immer um mittelprächtige Sexszenen herumlesen und das macht das Buch leider nicht zu meinem Liebling-Baldwin.

 

friedrich-ani-letzte-ehreFriedrich Ani – Letzte Ehre

Die Bücher von Friedrich Ani scheinen immer komplexer und düsterer zu werden. Und immer besser. Seine ermittelnden Personen waren schon immer ein wenig der Welt verloren gegangen. Nicht zufällig arbeitete der vielleicht bekannteste davon, Tabor Süden, beim Vermisstendezernat.
Melancholisch, illusionslos, dunkel sind die Fälle. Manchmal gibt es gar keinen richtigen Kriminalfall, nie wird es blutig oder actionreich. Die Spannung ist subtil, mehr Gesellschaftsromane als Thriller. Und mit dieser Gesellschaft steht es nicht zum Besten.
In Letzte Ehre sind es Misogynie und Gewalt gegen Frauen, die im Zentrum von gleich drei Ereignissen stehen, in die Polizeioberkommissarin Fariza Nasri versucht, Ordnung zu bringen.
Friedrich Anis Romane sind für mich mit das Beste, was die deutsche Krimiszene zu bieten hat. Und deshalb natürlich immer eine große Empfehlung.

 

Leïla Slimani - Das Land der Anderen

Leïla Slimani – Das Land der Anderen

Die französische Schriftstellerin Leïla Slimani, die 2016 überraschend den Prix Goncourt für Dann schlaf auch du erhalten hat, präsentiert mit Das Land der Anderen den ersten Band einer geplanten Familientrilogie, die sich an Slimanis eigener Familie orientiert und ein breites Tableau vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis ins Heute erstreckt.

Die an Slimanis eigener Großmutter angelehnte Elsässerin Mathilde heiratet gegen Ende des Kriegs den gutaussehenden Marokkaner Amine Belhaj, der für Frankreich kämpfte. Für die Tochter aus gutem Haus ein Abenteuer. In Amines Heimat, auf einem kleinen abgelegenen Landgut muss sie sich aber anderen Realitäten stellen als erhofft: Kargheit, erdrückende Traditionen, die subtile bis offene Ablehnung der französischen Gesellschaft, die dort als Kolonialmacht auftritt. Überraschenderweise begehrt die freiheitsliebende Frau nicht auf, vielleicht aus Liebe zu ihren Kindern. Die Tochter Aïcha wird die Erzählung ins nächste Buch hineintragen. Dieses hier endet mit den Unabhängigkeitsbestrebungen 1955/56. Eher konventionell erzählt überzeugt das Buch durch seine fast nüchterne Sprache und den weiten Blick.

 

Yanick Lahens - Sanfte Debakel

Yanick Lahens – Sanfte Debakel

Ein vielstimmiges Porträt der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince. Der Richter Raymond Berthier wird entführt, gefoltert und ermordet. Vermutlich, weil er während seiner Untersuchungen krummen Geschäften auf die Spur gekommen ist. Seine Tochter Brune und sein Schwager Pierre versuchen, etwas über den Mord herauszubekommen. Ein sehr heterogener Freundeskreis umfasst Revolutionäre, einen ehrgeizigen jungen Anwalt, einen amerikanischen Geschäftsmann, einen französischen Journalisten. Dazu Kriminelle und ein Auftragskiller. Das Buch hat einen ganz eigenen Rhythmus, Perspektivwechsel von 3. zur 1. Person manchmal von Satz zu Satz. Das ist zunächst einmal gewöhnungsbedürftig. Das Buch entwickelt aber einen starken Sog und ein eindrucksvolles Porträt der haitianischen Gesellschaft, der in ihr herrschenden Gewalt und Korruption. Unsicherheit ist ein vorherrschendes Gefühl. Dass man ihm auch in der sogenannten Ersten Welt nicht entgehen kann, offenbart das Ende.

 

Soweit meine Lektüre im Juni 2021. Bevor ich Ende des nächsten Monats hoffentlich in den Urlaub starten werde, hoffe ich noch die restlichen Frühjahrstitel zu lesen, denn einige Herbstneuerscheinungen warten hier bereits und in den Ferienwochen möchte ich mir zwar nicht vom Lesen, aber doch vom Rezensieren mal frei nehmen. Es werden hier auf jeden Fall regelmäßig Buchvorstellungen erscheinen, da ich eine ganze Reihe noch „in der Schublade“ habe. Euch allen wunderbare Sommer- und vielleicht auch Ferienwochen.

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