Das erstaunliche Prosagedicht des schottischen Lyrikers Robin Robertson stand 2018 auf der Shortlist des Man Booker Prize – nun ist es unter dem Titel Wie man langsamer verliert in der sehr gelungenen Übersetzung von Anne-Kristin Mittag auf Deutsch erschienen. Im Original ist dem Titel noch ein anderer vorangestellt. The Long Take or A Way To Lose More Slowly verrät die große Affinität des Romans zum Film. Eigentlich kein Wunder, denn ein Großteil des Romans spielt in Los Angeles zur Glanzzeit von Hollywood.
Ungefähr zehn Jahre umfasst das Werk, beginnend 1946 in New York. Walker, ein Kanadier aus der Provinz Nova Scotia, hat es nach dem Krieg hierher verschlagen. Nach seiner Heimatinsel Cape Breton im Nordosten Kanadas schweifen häufig seine Gedanken. Noch häufiger wandern sie aber zurück in die Zeit des Krieges, als Walker an der Landung der Alliierten in der Normandie teilnahm und anschließend in Frankreich kämpfte. Grauenerregende Szenen fluten durch seinen Kopf. Und Autor Robertson erspart sie auch den Leser:innen nicht. Wie viele Kriegsheimkehrer ist Walker ruhelos, traumatisiert, fühlt sich für sein Überleben schuldig, wo so viele seiner Kameraden auf entsetzliche Weise starben.
Kein Platz für die Heimkehrer
Von Ehre und Ruhm, gar Dank des Vaterlandes ist wenig zu spüren. Die Amerikaner wollen nicht an den Krieg erinnert werden. Hier ist kein Platz für die Traumatisierten. Der amerikanische Traum findet für sie nicht statt. Auch Walker findet seinen Platz nicht, bringt sich mit unterbezahlten Jobs irgendwie durch, zieht ziellos durch die Stadt. Wie so viele vor ihm, macht er sich auf nach Westen. Eine Zufallsbekanntschaft mit einem Filmmenschen gibt den Ausschlag dafür.
Es dauert nicht lange, dann muss Walker erfahren, dass auch in Kalifornien das gleiche Elend herrscht. Viele Kriegsveteranen leben auf der Straße, suchen Zuflucht beim Alkohol. Hier in den Reihen der Ausgegrenzten, Deklassierten findet er einen Freund: Billy Idaho. Dieser setzt sich für die Obdachlosen und Gestrandeten ein, ist aber selbst kaum bessergestellt. Ein anderer Freund wird Frank „Glassface“, der ebenfalls von Kriegstraumata gezeichnet ist.
Walker findet einen Job bei einer Tageszeitung, zunächst bei der Lokalredaktion, später schreibt er viel über die Menschen auf der Straße, wird für eine Reportage für längere Zeit nach San Francisco geschickt. Es beginnt die McCarthy-Ära mit ihrem radikalen Antikommunismus und ihren Verschwörungstheorien. Rassismus blüht, der 14jährige Schwarze Emmett Till wird in Mississippi gelyncht. Er ist und bleibt nicht der Einzige.
Eine Zeit des Aufbruchs
Zugleich ist es eine Zeit des Aufbruchs. Man will Altes loswerden. In Los Angeles kommt es zu großen städtebaulichen Veränderungen. Viktorianische Villen werden abgerissen, Einfamilienhäuser müssen Platz machen für Hochhäuser, Straßen und Parkplätze. Eine dunkle, kalte Zeit.
„Und sie erdrosseln die Stadt mit ihren Autobahnen,
behaupten, es verbessert die Anbindung,
sperren Bürgersteige, um die Sicherheit zu erhöhen.
Wir werden eingemauert und geknechtet von Beton.
(…)
Wir sind wieder bei den Wagenburgen angelangt.
Das ist unsere Angst vor >dem Anderen<
– Indianern, Schwarzen, Mexikanern, Kommunisten, Muslimen, egal –
Amerika muss seine Gespenster haben,
um sie zu sortieren, segregieren,
falls möglich erschießen.“
Aber es ist auch die Zeit der Hollywood-Filme. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt und besonders seinen Stadtteil „Bunker Hill“ trifft Walker immer wieder auf Teams am Drehort. Robin Robertson erwähnt etliche Filmszenen und Drehorte in Wie man langsamer verliert, ohne dass das den Unkundigen stört. Das allein ist schon eine Kunst. Ja, Robin Robertson verwandelt seinen wie ein langes Poem verfassten Text selbst in etwas Filmisches, Anklänge an expressionistisches Kino und an den Film Noir. Stadtsplitter, Momentaufnahmen, dunkle Einstellungen, ein Kojote streift durch Stadt und Buch.
„Gebäudereihen, alle gleich,
Türen und Fenster, Menschen gehen hinein, sehen heraus;
drinnen – Flure und Treppen, Flure und Treppen
und noch mehr Türen, die sich öffnen, sich schließen.
Straße um Straße mit Gebäuden, alle einerlei.
Menschen, einerlei.Das Chaos, die Farben: ein einziges
Treiben auf den Straßen, und drüber hinweg gerade Linien
und Diagonalen. Drugstores, Lebensmittelläden,
Imbissbuden, Diners. Missionen. Bars.
Blocks. Ecken. Kreuzungen.
Eine fallende Kiste oder ein schreiendes Kind, der Knall
einer Fehlzündung – und wieder ist er in Frankreich,
dieser Geschmack in seinem Mund. Kupfer. Kordit. Blut.“
Kriegstraumata
„Cos cheum nach gabh tilleadh“ ist als Motto dem Buch vorangestellt. Das ist das schottisch-gälische Motto der Nova Scotia Highlander, die am D-Day 1944 am Juno-Beach in der Normandie anlandeten. „Wir weichen nie zurück“ – 359 Kanadier verloren allein an diesem Strandabschnitt ihr Leben, mindestens 187 kanadische Gefangene wurden von der Panzerdivision „Hitlerjugend“ anschließend erschossen. Ein Kriegsverbrechen, dass Walkers Leben nachhaltig prägte und ihn auch in eigene Abgründe blicken ließ.
Robin Robertson verflicht Walkers Leben, teils grausame Rückblenden und einzelne Tagebucheintragungen (die jeweils in anderer Schrifttype gesetzt sind) zu dem großartigen, bildgewaltigen, kühnen Poem Wie man langsamer verliert. Denn darum geht es, möglichst langsam zu verlieren. Vom Gewinnen können nur wenige träumen.
Vielschichtig, tiefgründig, melancholisch und kraftvoll erfordert der ungewöhnliche Stil des Textes ein wenig Einlesezeit. Bezüge zu Film, Musik und kraftvolle Dialoge schaffen einen ganz eigenen Rhythmus. Wer sich darauf einlässt, wird mit einem ganz besonderen Lektüreerlebnis belohnt. Ein wirklich grandioses Buch.
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Beitragsbild: Angels Flight via Fandom (CC BY-SA 3.0)
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Robin Robertson – Wie man langsamer verliert
übersetzt aus dem Englischen von Anne Kristin Mittag
Hanser Verlag, Fester Einband, 256 Seiten, 25,00 €