Julian Barnes – Der Mann im roten Rock

Samuel Pozzi
Samuel Pozzi Gemälde von John Singer Sargent, Public domain, via Wikimedia Commons

Es beginnt mit einem Gemälde von John Singer Sargent. Das 1881 entstandene, in opulenten Rottönen gehaltene Ölgemälde zeigt lebensgroß einen in einen edlen Morgenrock gekleideten, in exquisiter Pose verharrenden Mann. Es ist Samuel Jean Pozzi (1846-1918), bekannter Pariser Arzt, Chirurg und Hygieniker, seit 1909 Inhaber des ersten Lehrstuhls für Gynäkologie in Frankreich. Julian Barnes nimmt ihn, Der Mann im roten Rock, als Türöffner für seine Reise in eine Epoche, die gemeinhin auch die Schöne genannt wird. Die „Zeit des Friedens zwischen der katastrophalen französischen Niederlage von 1870-71 und dem katastrophalen französischen Sieg 1914-18“ gilt als Blütezeit der Kunst, als Zeit der Ästhetisierung des Daseins und des Glamours „mit mehr als einem Hauch von Dekadenz“ – für die, die es sich leisten konnten.

„Die Belle Époque war eine Zeit unermesslichen Wohlstands für die Wohlhabenden, der gesellschaftlichen Macht für die Aristokratie, des hemmungslosen und ausgefeilten Snobismus, des ungezügelten Strebens nach Kolonialbesitz, des künstlerischen Mäzenatentums und des Duells, dessen Brutalität oft eher ein Gradmesser der persönlichen Erregung als der verletzten Ehre war. Man kann dem Ersten Weltkrieg nicht viel Gutes abgewinnen, aber wenigstens hat er davon viel hinweggefegt.“

Samuel Pozzi

Einer davon war Samuel Pozzi, Sohn eines protestantischen Pfarrers aus Bergerac mit italienischen Wurzeln. Da der Vater nach dem Tod der Mutter ein zweites Mal heiratete, und zwar eine Engländerin, wuchs Pozzi zweisprachig auf. Etwas, das seine Neigung zu England und der englischsprachigen Welt sicher unterstützte. Im Jahr 1846 begann er das Studium der Medizin in Paris und fand im Chirurg Paul Broca und im Literat Leconte de Lisle einflussreiche Förderer. Besonders im Bereich der aseptischen Operation und der Gynäkologie tat er sich hervor und wirkte schließlich 35 Jahre am Pariser öffentlichen Krankenhaus Lourcine-Pascal (später Hôpital Broca). Durch Heirat mit der sehr vermögenden Thérèse Loth-Cazalis konnte er außerdem eine Privatpraxis an der Place Vendôme eröffnen und wurde bald eine Art Modearzt. Er kannte „tout Paris“ und war, so eine Art running gag bei Julian Barnes, „überall“. Eine Zeitgenossin nannte ihn „ekelhaft gutaussehend“ und er galt als „Homme à femmes“, handfester ausgedrückt, ein Schürzenjäger.

Schon seit jungen Jahren war er ein enger Freund (und zeitweise Liebhaber) der skandalumwitterten Schauspielerin Sarah Bernhardt, er war Arzt und Unterstützer von Alfred Dreyfus, Freund der Familie Proust (deren Sohn Robert 1904 bis 1914 als sein Assistent arbeitete), zählte etliche Künstler und Schriftsteller zu seinem engeren Bekanntenkreis. Darunter auch Prinz Edmond de Polignac und Robert de Montesquiou-Fezensac, beides Vertreter jener Lebenseinstellung, die für Julian Barnes so typisch ist für die Belle Époque: den Dandyismus. Der Dandy zeichnet sich durch perfektes Stilempfinden, besonders in Bezug auf seine äußere Erscheinung, durch einen Hang zur Selbstinszenierung, durch Geistreichtum und Großzügigkeit aus. Bürgerliche Zwänge sind ihm ein Gräuel. Politik interessiert ihn nicht.

„Der Dandy ist in Ästet, für den Denken weniger Wert hat als Sehen“

Für Julian Barnes ist Samuel Pozzi „beinahe ein Dandy.“ Sein Stilempfinden, sein Gesellschaftsleben, seine zahllosen Affären, besonders die jahrelang andauernde, offene Beziehung zur ebenfalls verheirateten Emma Fischoff, zeichnen ihn als solchen aus. Gleichzeitig gilt er ihm mit seiner Weltgewandtheit, seiner Wissbegierde und breiten Bildung, seinem rationalen, fortschrittlichen Denken (er war Atheist und übersetzte Charles Darwin ins Französische, unternahm zahlreiche Reisen zu Medizinkongressen weltweit) und seiner freundlichen, großzügigen Art als positive Ausprägung dieser Lebenseinstellung.

Robert de Montesquiou-Fezensac

Anders Robert de Montesquiou-Fezensac, der wie Edmond de Polignac offen homosexuell lebt (auch wenn letzterer zwecks Aufbesserung der Kasse eine Ehe mit der steinreichen amerikanischen – und lesbischen – Erbin Winnaretta Singer einging), und sich zu so etwas wie einer zweiten Hauptfigur in Der Mann im roten Rock und einer Art Gegenentwurf zu Pozzi entwickelt. Ihm sind soziales und politisches Engagement, wie es Pozzi durchaus vertritt, fremd. Er ist eitel, oberflächlich, zynisch und extrem egozentrisch. Als Baron de Charlus ist er nicht nur in Marcel Prousts Recherche du temps perdu verewigt, sondern auch der Protagonist von Joris Karl Huysmans gerne als „Bibel der Dekadenz“ bezeichnetem Roman À Rebours (dt. Gegen den Strich), der auch Oscar Wildes Dorian Gray beeinflusste und quasi mit Wilde zusammen bei dessen „Unzuchts-Prozess“ vor Gericht stand. Hier ist der „Hauch Dekadenz“ endgültig zu einem Sturm geworden.

Pozzi hingegen gilt für Julian Barnes als „ein vernünftiger Mensch in einer verrückten Zeit.“ Einer Zeit, die schön zu nennen „erst 1940-41, nach einer weiteren französischen Niederlage, in die Sprache Einzug“ hielt.

„Damals jedoch war die Schöne Epoche – auch dem Gefühl nach – eine Periode neurotischer, ja hysterischer nationaler Angst, gezeichnet von politischer Instabilität, Krisen, Skandalen.“

Politische Korruptionsskandale, zahlreiche Attentate (u.a. 1894 auf den französischen Staatspräsidenten Carnot, 1898 auf Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn, 1914 auf den sozialistischen Politiker Jean Jaurès und nicht zuletzt auf den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, der Starschuss zum Ersten Weltkrieg), blühender Antisemitismus (Dreyfus-Affäre) und eine Unzahl von Ehrenhändel in Form von Duellen machen die Schattenseiten der Belle Epoque aus. Außerdem zeichnet sie sich durch einen erschreckend rüden Journalismus aus. Klatsch, Tratsch und Skandale, wie sie beispielsweise die Gebrüder Goncourt in ihrem „Journal“ zusammentrugen, und üble Nachrede, die zu so manchem nicht nur gesellschaftlichen Ruin beitrugen, wurden wie eine Art Sport betrieben. Besonders Léon Daudet, Edouard Drumont und Jean Lorrain betätigten sich hier mit Bravour. Auch letzterer wird zu einer zentralen Figur in Der Mann im roten Rock.

eine „frenetische, hasserfüllte, zänkische Zeit.“

Für Julian Barnes war die Belle Époque eine „frenetische, hasserfüllte, zänkische Zeit.“

Nicht zuletzt war eine der Disziplinen, in denen sich Dr. Pozzi besonders hervortat, die Hysterektomie, also die Entfernung der Gebärmutter. Damals fast eine „Modeoperation“, die Frauen von der ihnen innewohnenden Hysterie heilen sollte. Anstatt diese als psychisches Symptom der Zeit zu interpretieren.

Auch er (Julian Barnes) bedient sich aber so manchen Klatsches und so mancher Indiskretion. Ein gern immer wieder aufgegriffenes Motiv ist das französische Urteil über englische Frauen. Das, überraschender Weise, nicht sehr vorteilhaft ausfällt.

„Es gibt drei Geschlechter: das männliche, das weibliche und die Engländerin.“

so der französische Dichter Jules Laforgue. Gern greift der frankophile Julian Barnes, Sohn zweier Französischlehrer, die Gegensätze in der französischen und der englischen Weltwahrnehmung auf, beispielsweise in der Einstellung zu Liebe und Ehe. Eine andauernde Hassliebe, geprägt von gegenseitiger Bewunderung und Unverständnis.

DuellAnhand von Anekdoten und Fundstücken, zwischen zahllosen Quellen mäandernd, bewegt er sich (Julian Barnes) spielerisch, anregend und vergnüglich durch die Epoche. Stets ist der Blick (selbst)ironisch und seiner eigenen Grenzen bewusst.

„Warum drängt es die Gegenwart ständig, über die Vergangenheit zu urteilen?“

Amüsanter Spaziergang durch eine Epoche

Verschiedene Male betont der Autor: „Wir wissen es nicht“, weiß um die Begrenztheit der historischen Sicht. Zumal sie sich hier auf eine bestimmte gesellschaftliche Schicht fokussiert. Erstaunlich, dass angesichts der Fülle an Material und der Vielzahl an historischem Personal, die Erzählung niemals droht, auseinanderzufallen. Dass vielmehr ein schillerndes Kaleidoskop entsteht, eine Art Wundertüte, aus der sich der Leser, die Leserin mit Gewinn bedienen kann. Dabei verfolgt der Autor bewusst eine gewisse Formlosigkeit, gruppiert sein Material kaum, vermeidet weitgehend einordnende Überschriften, verfährt sprunghaft. Viel mehr als eine historische Abhandlung ist Der Mann im roten Rock von Julian Barnes die amüsante Plauderei über eine Epoche.

Besonders schön ist die Ausstattung des Buchs mit zahlreichen farbigen Abbildungen von Gemälden und von Schokolade-Sammelbildchen aus der Serie „Célébrités Contemporaines“ von Felix Potin. Von den insgesamt 3×500 Bildern, die zwischen 1898 bis 1922 erschienen waren übrigens nur 65 mit weiblichen „Célébrités“ bedruckt. Und davon 43 mit „Künstlerinnen“ eher zweifelhafter Bedeutung (meistens Schauspielerinnen und Revuesternchen) und 11 Vertreterinnen europäischer Königshäuser. Auch das wirft einen interessanten Blick auf diese Belle Époque.

 

Der Bücheratlas, Letusreadsomebooks und Kulturbowle haben das Buch bereits besprochen

Beitragsbild: via wikimedia Commons

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Julian Barnes - Der Mann im roten Rock.

Julian Barnes – Der Mann im roten RockVerlag:
Übersetzt von: Gertraude Krueger
Kiepenheuer&Witsch Januar 2021, 304 Seiten, gebunden, € 24,00

 

2 Gedanken zu „Julian Barnes – Der Mann im roten Rock

  1. „Spielerisch, anregend und vergnüglich“ – das trifft es wirklich sehr gut. Auch für mich war dieser Barnes eine opulente, üppige und amüsante Lektüre – Danke fürs Verlinken! Schöne Sonntagsgrüße! Barbara

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