Brandon Taylor – Real Life

Ein Sommerwochenende am See. Eine Universitätsstadt irgendwo im Mittleren Westen der USA. Eine Clique von Doktoranden der Biochemie nebst Anhang, die sich treffen, um die Woche bei eins, zwei kühlen Bier ausklingen zu lassen. So idyllisch und einem Campusroman ähnlich wie das klingt, ist der Debütroman Real Life von Brandon Taylor, mit dem der 1989 geborene Autor 2020 gleich auf der Shortlist zum Booker Prize stand, keineswegs.

Wallace, der Protagonist, an dem die personale Erzählinstanz stets ganz nah dran bleibt, ist Schwarz. Genauer gesagt ist er der erste und einzige Schwarze Doktorand seit Jahrzehnten an der biochemischen Fakultät. Wallace ist schwul und stammt aus prekären Familienverhältnissen in den Südstaaten. Nichts was seine aufgeklärten, liberalen und weltoffenen weißen Studienkollegen offen stören würde. Nein, sie sind ihm ehrlich zugetan und haben ihn in ihre Mitte aufgenommen. Und doch ist da immer dieses merkwürdige Gefühl, anders zu sein, nicht richtig dazuzugehören.

Seine mühsam im Labor gezüchteten Nematoden, die für seine Experimente zur Genmanipulation gebraucht werden, findet er kurz vor dem Wochenende komplett mit einem Pilz kontaminiert vor. Die Arbeit von Tagen, wenn nicht gar Wochen ist dahin. Warum sind nur seine Kulturen betroffen, alle anderen im selben Brutschrank aber nicht? Und seine Laborkollegin Dana beschuldigt ihn auch noch sexistischen Verhaltens, und die gemeinsame Doktormutter glaubt ihr sofort.

Außenseiter

Selbst in seinem engsten Freundeskreis erscheint er immer mehr als Außenseiter und muss sich auch dort latent rassistische Sprüche anhören und unterschwellige Mikroaggressionen erdulden. Alles ist natürlich „nicht so gemeint“. „Stell dich nicht so an, das hast du falsch verstanden.“ Als er damals zur ersten Campusparty mit liebevoll zubereiteten Fleischbällchen aufkreuzte, zuckten die veganen Kinder aus gutem Haus nur leicht angeekelt mit den Schultern. Auch so geht Herablassung.

„Als bezweifelten sie, dass man die Wahrheit sagt, als könnten sie an der bloßen Form einer Aussage erkennen, ob sie rassistisch ist oder nicht. Und natürlich vertrauen sie ihrem eigenen Urteilsvermögen bedingungslos.“

Aber auch Wallace ist keine nur positiv dargestellte Person, sondern durchaus widersprüchlich. Sein mühsam erarbeitetes Stipendium bedeutet ihm alles. Seine Arbeit am Institut hat deshalb etwas Verbissenes. Seine Selbstbezogenheit wird im Gespräch mit der Kollegin Brigit deutlich, deren Rassismuserfahrung – sie hat asiatische Wurzeln – er gar nicht ernst nimmt. Und aus niedrigen Rachemotiven begeht er an seinem Freund Cole einen folgenreichen Verrat.

So genau wie Wallace seine Nematoden unter dem Mikroskop seziert, so genau und unbestechlich analysiert Brandon Taylor in Real Life seinen Protagonisten, der vermutlich einiges mit seinem Autor gemeinsam hat. Denn dieser hat kurz vor der Niederschrift seines Romans, die verblüffenderweise nur drei Wochen gedauert haben soll, selbst sein Biochemiestudium hingeworfen.

Ein besseres Leben

Für Wallace bedeuten das Studium und seine Promotion ein Sprungbrett, eine Chance auf ein neues, besseres Leben. Gegenüber Miller aus der Freundesclique, dem er sich annähert und der mit ihm eine Liebesbeziehung eingeht, gesteht er Dinge aus seiner Kindheit, die kein Kind erlebt haben sollte: sexueller Missbrauch durch einen Bekannten der Eltern, Leugnen und Verschweigen in der Familie, Alkohol, Gewalt, immer wieder Armut.

Miller hat selbst Gewalterfahrungen in der Vergangenheit gemacht, auch er kommt aus dem ländlichen Süden und aus einfachen Verhältnissen. Die Beziehung zwischen Wallace und ihm ist eher toxisch, gewalttätig, zerstörerisch. Und doch zieht es die Beiden mit Macht zueinander.

Die eigentliche Handlung des Romans umfasst nur die drei Tage des Wochenendes. Durch Erinnerungen, Gedanken und Gespräche bekommen die Leser:innen aber einen tiefen Einblick nicht nur in die Persönlichkeit von Wallace, sondern auch in das Beziehungsgefüge der Clique. Junge Menschen, die irgendwie darauf zu warten scheinen, dass das richtige Leben, das „Real Life“, endlich beginnt. Und die gar nicht bemerken, wie unterschiedlich ihre Startchancen dabei sind.

Unterschwelliger Rassismus, Queerness, Identitätssuche, Campusleben, sexueller Missbrauch, Freundschaft – Brandon Taylor verwebt das alles in Real Life zu einem wirklich verblüffend guten Debütroman.

 

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Beitragsbild: Marco Verch Professional P (CC BY 2.0) via Flickr

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Brandon Taylor - Real Life.

Brandon Taylor – Real Life
Übersetzt von: Eva Bonné
Piper Mai 2021, 352 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, € 22,00

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