Manche von euch haben es vielleicht schon gesehen: Ich darf dieses Jahr als eine von 20 offiziellen Buchpreisblogger:innen den Preis begleiten und nehme das zum Anlass: hier ein kleiner Rückblick auf 16 Jahre Deutscher Buchpreis und die Gewinner der Jahre 2005-2020.
Schon seit Beginn verfolge ich diesen Preis sehr aufmerksam. Viele der Titel haben mich überzeugt, einige nicht. Die meisten von ihnen hatte ich sowieso auf meiner Leseliste, andere waren Entdeckungen für mich.
Der Deutsche Buchpreis wird seit 2005 jährlich zu Beginn der Frankfurter Buchmesse verliehen. Gekürt werden soll der deutschsprachige „Roman des Jahres“, wobei natürlich fragwürdig ist, ob es den einen besten Roman überhaupt geben kann, so divers die Leser:innen und ihre Vorlieben und Erwartungen sind. Ganz abgesehen von den Literaturkritiker:innen, die andere und auch sehr divergente Maßstäbe anlegen. Oder die Buchhändler:innen, für die Marktgängigkeit nochmal eine ganz besondere Rolle spielt. Dennoch gibt der Preis immer wieder einen schönen Überblick über die Romanproduktion eines Jahres.
Immer wieder ist aber der Preis und vor allem die jährlich wechselnde Jury von sieben Branchenvertreter:innen heftiger Kritik ausgesetzt. Zu starkes Schielen auf Umsatzzahlen wird ihm schon immer vorgeworfen. Überbewertung der Marktgängigkeit – immerhin wird der Preis vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels initiiert, unterstützt von diversen Sponsoren. Lange Zeit war die zu männliche Besetzung der Jury Stein des Anstoßes, in neuerer Zeit wird ihre fehlende Diversität beklagt. Wie auch immer – der Preis ist jedes Jahr ein wunderbares Mittel, um Literatur ins Gespräch zu bringen. Und die Beteiligung von Buchblogger:innen kann da nur unterstützend wirken.
Der Deutsche Buchpreis ist mit insgesamt 37.500 Euro dotiert: Der oder die Preisträger:in erhält 25.000 Euro, die übrigen fünf Autor:innen der Shortlist erhalten jeweils 2.500 Euro. Der Deutsche Buchpreis wird jährlich zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse im Kaisersaal des Frankfurter Römer verliehen.
Hier nun ein Rückblick auf die Gewinner Deutscher Buchpreis der Jahre 2005-2020:
2005
2005 wurde der Deutsche Buchpreis zum ersten Mal verliehen. Gewinner war der Österreicher Arno Geiger mit seinem drei Generationen umspannenden Familienroman Es geht uns gut. Darin wird die gern genutzte Situation der Hausentrümpelung genutzt, um auf frühere Generationen, die Zeitläufte und das eigene Verhältnis zu Familie und Zeit zu schauen.
Philipp Erlach, 36-jähriger Schriftsteller, erbt nach dem Tod seiner Großmutter eher widerwillig deren Villa in Wien. In mit Wochentagen und Daten überschrieben Kapiteln, in den Zeitebenen hin und her springend und aus verschiedenen Perspektiven, wird von Ereignisse aus den Jahren 1938 bis 2001 erzählt. Tragikomisch, ironisch, teils leicht surreal, arbeitet Geiger zeitgeschichtliche Ereignisse wie den „Anschluss“ Österreichs 1938, den Mauerfall 1989 und die Terroranschläge von 2001 unaufdringlich ein und thematisiert auch bereits Demenz, die in seinem erfolgreichsten Buch, dem autobiografischen „Der alte König in seinem Exil“ (2011) zentral wird.
Mir hat Es geht uns gut damals sehr gefallen. Ein eher leises Buch. 2018 konnte mich Geiger mit Unter der Drachenwand dann erneut sehr abholen. Zu erwähnen wäre vielleicht noch, dass in der ersten Buchpreis-Jury Juli Zeh und Bodo Kirchhoff saßen und dass Konkurrent auf der Shortlist Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt war. Wäre sicher auch ein verdienter Gewinner gewesen.
Aus der Begründung der Jury 2005:
„Arno Geiger gelingt es in „Es geht uns gut“ Vergängliches und Augenblick, Geschichtliches und Privates, Bewahren und Vergessen in eine überzeugende Balance zu bringen. (…) In klug komponierten Schnitten erschafft er eine Reihe lebendiger Porträts, deren heimliche Mitte zwei eindrucksvolle Frauen bilden. „Es geht uns gut“ ist nach Überzeugung der Jury ein Roman, der ebenso genau wie leicht vom Gewicht des Lebens spricht.“
2006
Katharina Hacker – Die Habenichtse
Katharina Hackers Roman Die Habenichtse hat mich sehr überrascht und – um es gleich zu sagen – abgeholt. Zunächst hatte mich die Inhaltsbeschreibung nämlich wenig angesprochen: erfolgreiches Yuppie-Paar in den Dreissigern, er Anwalt, sie Graphikdesignerin, ziehen nach dem 9/11 nach London. Beide nach außen erfolgreich und angekommen, erweisen sie sich doch als recht haltlos und extrem unfähig zum Glücklichsein. Katharina Hacker verortet die Beiden in Kentish Town, einem sehr inhomogenen Stadtteil. Hier wohnen sie Tür an Tür mit den vernachlässigten Kindern eines Alkoholikerehepaars und einem Drogenabhängigen. Eingebettet ist das Ganze in die Auseinandersetzungen mit dem Irakkrieg. Klug, atmosphärisch dicht, werden viele Fragen zum zeitgenössischen Leben gestellt, ohne sie für die Leser:innen zu beantworten. Ein Umstand, der vielleicht dazu führt, dass das Buch zumindest in meiner Wahrnehmung nicht nur Fans hat. Ich mochte es sehr.
Aus der Begründung der Jury:
„Katharina Hackers Roman Die Habenichtse erzählt die Geschichte von Haben und Sein neu. (…) In einer flirrenden, atmosphärisch dichten Sprache führt Katharina Hacker ihre Helden durch Geschichtsräume und in Problemfelder der unmittelbarsten Gegenwart, ihre Fragen sind unsere Fragen: Wie willst du leben? Was sind deine Werte? Wie sollst und wie kannst du handeln?“
2007
Julia Franck – Die Mittagsfrau
2007 wählte die Jury des Deutschen Buchpreises „Die Mittagsfrau“ von Julia Franck zum Gewinnertitel aus einer im Rückblick wenig nachhaltigen Longlist. Einzig „Abendland“ von Michael Köhlmeier hat meines Erachtens ein wenig Nachruhm behalten. Ich mochte damals „Böse Schafe“ von Katja Lange-Müller, Peter Henischs Mutterbuch „Eine sehr kleine Frau“ und Lena Goreliks „Hochzeit in Jerusalem“ sehr gerne. Aber wer kennt die heute noch?
Mit der „Mittagsfrau“ habe ich mich zumindest anfangs ähnlich schwer getan wie ein Großteil der Literaturkritik. Die Geschichte einer Mutter, die 1945 ihren kleinen Sohn bewusst an einem Bahnhof „aussetzt“ und die rückblickend das Leben dieser Frau – den früh verstorbenen Geliebten, die sich in den Wahnsinn flüchtende Mutter, die Flucht in die Ehe mit einem strammen Nazi – beleuchtet, war thematisch schon reizvoll, aber wie in den Kritiken oft zu lesen, doch sprachlich nicht immer gelungen, oft nah an der Kolportage, mit Klischees beladen. Es gab gelungene Abschnitte, ohne Frage, und der Schluss, der das Kriegsende aus den Augen des kleinen Jungen betrachtete, war richtig gut. Insgesamt wunderte es aber dennoch, dass dieser so oft bemängelte Roman dann schließlich den Preis erhielt.
Aus der Begründung der Jury:
„Vor dem Hintergrund zweier Weltkriege erzählt Julia Franck die verstörende Geschichte einer Frau, die ihren Sohn verlässt, ohne sich selbst zu finden. Das Buch überzeugt durch sprachliche Eindringlichkeit, erzählerische Kraft und psychologische Intensität. Ein Roman für lange Gespräche.“
2008
2008 erhielt dann Uwe Tellkamp den Preis für seinen oppulenten DDR-Roman „Der Turm“. Die Begeisterung für den 1000-Seiter, der Geschichten der bildungsbürgerlichen Bewohner eines bekannten Wohnviertels in Dresden, des „Weißen Hirschs“ in der Spätphase der DDR von 1982 bis 1989 mit der Geschichte zweier Familien verbindet und episch, sprachlich fein, wenn auch ein wenig altertümlich ausbreitet, war groß. Schon lange hatte man auf den deutschen Wenderoman gewartet. Da schien er zu sein. Heute fasst man das Buch angesichts der politischen Entgleisungen seines Autors eher mit spitzen Fingern an und hat es angeblich noch nie gemocht. Ich gebe zu: Ich fand es toll. Es hat mich wirklich begeistert. Und ich habe es mir sogar signieren lassen. Natürlich ist der Autor mittlerweile auch für mich verbrannt. Dieses Buch aber bleibt. Genauso preiswürdig (oder sogar noch mehr) wäre für mich aber auch das ganz wunderbare „Nach Hause schwimmen“ von Rolf Lappert gewesen.
Aus der Begründung der Jury:
„Uwe Tellkamps großer Vorwenderoman ,Der Turm’ entwirft in einer Fülle von Szenen, Bildern und Sprachformen das Panorama einer Gesellschaft, die ihrem Ende entgegentaumelt. Am Beispiel einer bürgerlichen Dresdner Familie erzählt er von Anpassung und Widerstand in einem ausgelaugten System.“
2009
Kathrin Schmidt – Du stirbst nicht
Der Roman über eine Frau, die nach einer Hirnblutung nicht nur die Funktionen des Körpers, sondern das Leben und die Zuversicht wiedererobern muss, hat mich sehr für sich eingenommen. Ein verdienter Siegertitel, auch wenn mich persönlich Stephan Thomes Grenzgang (Shortlist) und Mirko Bonnés Wie wir verschwinden (Longlist) sicher genauso begeistert haben und mit Herta Müllers Atemschaukel auch ein großes Schwergewicht mit auf der Shortlist stand. Im Jahr darauf erhielt Herta Müller den Literaturnobelpreis.
Aus der Begründung der Jury:
„Der Roman erzählt eine Geschichte von der Wiedergewinnung der Welt. (…) Mal lakonisch, mal spöttisch, mal unheimlich schildert der Roman die Innenwelt der Kranken und lässt daraus mit großer Sprachkraft die Geschichte ihrer Familie, ihrer Ehe und einer nicht vorgesehenen, unerhörten Liebe herauswachsen. Zur Welt, die sie aus Fragmenten zusammensetzt, gehört die zerfallende DDR, gehören die Jahre zwischen Wiedervereinigung und dem Beginn unseres Jahrhunderts.“
2010
Melinda Nadj Abonji – Tauben fliegen auf
Ich denke, dieser Titel aus dem kleinen, mir damals kaum bekannten Jung und Jung Verlag (aus dem mittlerweile einige Preisträger:innen hervorkamen) war ein ziemlicher Überraschungssieger. Mir hat die Geschichte mit autobiografischem Hintergrund über eine ungarische Familie, die aus der serbischen Vojvodina stammt und sich in den 1990er Jahren in der Schweiz in der Gastronomie eine Existenz gründet sehr gut gefallen. 2010 war ein insgesamt eher unauffälliger Jahrgang. Ich mochte noch Judith Zanders Dinge die wir heute sagten (Shortlist) und vor allem Kristof Magnussons Das war ich nicht (Longlist). Und natürlich ist 2010 der Startpunkt von Andreas Maiers großartiger „Ortsumgehung“. Das Zimmer stand immerhin auf der Longlist.
Aus der Begründung der Jury:
„Sie erzählt es mit einer eigenen und äußerst lebendigen Stimme (…) Was als scheinbar unbeschwerte Balkan-Komödie beginnt, wenn die Familie mit einem klapprigen braunen Chevrolet die sommerliche Reise in die alte Heimat antritt – darauf fallen bald die Schatten der Geschichte und der sich anbahnenden jugoslawischen Kriege.“
2011
Eugen Ruge – In Zeiten des abnehmenden Lichts
In meinen Augen war Eugen Ruges breit angelegter Familienroman, der drei Generationen umspannte und die Exiljahre der Großeltern in Mexiko, die Aufbauarbeit der überzeugten Kommunisten in der DDR, Stalinismus und Wendezeit umfasst, ein großartiger Sieger. Ich finde den Roman auch heute noch sehr stark und habe nie verstanden, warum der Quasi-Nachfolger „Metropol“ von Eugen Ruge beim Buchpreis keine Beachtung gefunden hat. Der von mir sehr verehrte Peter Kurzeck stand mit Vorabend, dem Mammutroman auf der Longlist, hat es zu meinem Bedauern aber nicht weiter geschafft.
Aus der Begründung der Jury:
„Eugen Ruge spiegelt ostdeutsche Geschichte in einem Familienroman. Es gelingt ihm, die Erfahrungen von vier Generationen über fünfzig Jahre hinweg in einer dramaturgisch raffinierten Komposition zu bändigen. Sein Buch erzählt von der Utopie des Sozialismus, dem Preis, den sie dem Einzelnen abverlangt, und ihrem allmählichen Verlöschen. Zugleich zeichnet sich sein Roman durch große Unterhaltsamkeit und einen starken Sinn für Komik aus.“
2012
Ein wahres Schwergewicht an Roman, schon allein von seinem Umfang her (492 Seiten), erhielt 2012 den Deutschen Buchpreis. Aber auch Thematik und Stil von Landgericht sind herausfordernd und die Auszeichnung dieses Romans über die Rückkehr des aus Nazideutschland vertriebenen Richters Richard Kornitzer aus dem Exil ins Heimatland sicher nicht unbedingt dem Kriterium Marktgängigkeit folgend, aber absolut lobenswert. Von der Kritik wurde das Buch fast durchgängig hoch gelobt. Aber es ist vielleicht das erste Mal, dass ein etwas sperriger Roman den Preis gewann. Seitdem wird immer wieder von beiden Seiten einmal die „Belanglosigkeit“ der ausgezeichneten Titel (Kritik) oder die „Unverkäuflichkeit“ und „Verkopftheit“ (Buchhandel) beklagt. Ich muss zugeben, dass ich dieses Buch trotz großem Interesse bisher noch nicht gelesen habe, aber ein erstes Reinlesen war vielversprechend.
Richard Kornitzer kehrt 1947 aus seinem Exil in Havanna zurück, verzweifelt an seinem Glauben an Recht und Gerechtigkeit auch im Nachkriegsdeutschland und an den Bemühungen, seine zersprengte Familie wieder zu vereinen. Die „tragische Geschichte von einem, der nicht mehr ankommt“ und über die Gründungsjahre der BRD.
Aus der Begründung der Jury:
„Die Sprache des Romans oszilliert zwischen Erzählung, Dokumentation, Essay und Analyse. Bald poetisch, bald lakonisch, zeichnet Krechel präzise ihr Bild der frühen Bundesrepublik – von der Architektur über die Lebensformen bis hinein in die Widersprüche der Familienpsychologie. „Landgericht“ ist ein bewegender, politisch akuter, in seiner Anmutung bewundernswert kühler und moderner Roman.“
Aus diesem Jahrgang mochte ich Stephan Thomes Fliehkräfte, Dea Lohers Bugatti taucht auf, Milena Michiko Flasar Ich nannte ihn Krawatte und Olga Grjasnowas Der Russe ist einer, der Birken liebt.
2013
Weiter geht es mit den eher sperrigen Romanen. Und weiter geht es mit meiner Liste der ungelesenen (nicht dass ihr jetzt denkt, ich scheue mich vor etwas unzugänglichen Romanen 😉 ).
Dass ich das Buch bisher noch nicht in Angriff genommen habe, mag wieder an seinem Umfang liegen (688 Seiten), vor allem aber daran, dass der Hauptprotagonist bereits in Moras ebenfalls hochgelobten Roman Der einzige Mann auf dem Kontinent vorkam, Das Ungeheuer also quasi eine Fortsetzung ist (die man aber unbedingt auch ohne den Vorgänger lesen kann).
Dieser Darius Kopp, mittelalter, übergewichtiger IT-Spezialist und vielleicht typischer, parodistisch überspitzter Vertreter einer entfremdeten Arbeits- und Privatwelt vor dem Hintergrund der Finanzkrise im 2009 erschienenen Vorgänger, steht nun vor den Scherben seines Lebens. Nach dem Jobverlust muss er nun auch die Selbsttötung seiner Frau verkraften und feststellen, wie wenig er diese eigentlich kannte. Mora verdeutlicht das dadurch, dass sie den Text zweiteilt. Einmal Darius Geschichte, einmal Tagebuchaufzeichnungen seiner Frau. Beides kann man parallel oder auch nacheinander lesen. Formal ein interessantes Experiment. Es schließt sich eine Roadnovel an, bei der Darius auf den Spuren seiner aus Ungarn stammenden Frau nach Osteuropa aufbricht.
Aus der Begründung der Jury:
„,Das Ungeheuer‘ ist ein stilistisch virtuoser, perspektivenreicher Nekrolog und eine lebendige Road-Novel aus dem heutigen Osteuropa. Terézia Mora findet eine radikale Form, der verstorbenen Flora und ihrem Leiden, das sie Darius nicht mitteilen konnte, eine Stimme zu geben. Ihre Tagebuchdatei ist parallel zur Reiseerzählung von Darius unter dem schwarzen Strich zu lesen, ein Mosaik autobiografischer und medizinischer Skizzen zur Depression. Als Schriftstellerin gelingt es Mora, zwei Charaktere, die sich im Leben verfehlten, und zwei Textformen miteinander in Verbindung zu setzen. Terézia Mora vereint hohes literarisches Formbewusstsein mit Einfühlungskraft. ,Das Ungeheuer‘ ist ein tief bewegender und zeitdiagnostischer Roman
2013 waren noch Jonas Lüscher mit „Frühling der Barbaren“ und Mirko Bonnés Nie mehr Nacht nominiert, letzterer kam bis auf die Shortlist und hat auch mich sehr beeindruckt. Und der Publikumsliebling Joachim Meyerhoff schaffte es mit seinem großartigen Wann wird es wieder so wie es nie war zumindest auf die Longlist. (Zweiter Teil seiner zumindest in den ersten Teilen großartigen Alle Toten fliegen hoch-Serie.)
2014
Lutz Seilers Roman erhielt durchgängig hymnische Besprechungen und ist sicher einer der Buchpreisgewinner, der bleiben wird. Der in gewissem Sinn „Nachfolger“ Stern 111 schaffte es zu (nicht nur meiner Verwunderung) dagegen 2020 nicht einmal auf die Longlist. Eines der Mysterien und unverständlichen Entscheidungen, die bei jeder Juryarbeit vorkommen. (Ich konnte das bereits bei Eugen Ruges ebenfalls in diesem Jahrgang unberücksichtigtem Metropol nicht nachvollziehen). Bei Kruso war man sich aber noch einig: Diese Geschichte über eine Enklave der geistigen Freiheit in der DDR auf Hiddensee, in die sich der junge Protagonist Edgar als Abwäscher in der Inselkneipe flüchtet und in der er eine merkwürdige Freundschaft zu Alexander Krusowitsch schließt, bevor alles durch die Ereignisse des Herbstes 1989 durcheinandergewirbelt wird, wird als sprachlich besonders herausragend gelobt. Und die Herangehensweise, die „Wende“ mal aus einer gänzlich anderen und unaufdringlichen Perspektive zu schildern, als erfrischend. Beides Urteile, denen ich mich anschließe.
Aus der Begründung der Jury:
„Der Text entwickelt eine ganz eigene Dringlichkeit und ist nicht zuletzt ein Requiem für die Ostseeflüchtlinge, die bei ihrer Flucht ums Leben kamen. Lutz Seilers erster Roman überzeugt durch seine vollkommen eigenständige poetische Sprache, seine sinnliche Intensität und Welthaltigkeit.“
2015
Frank Witzel – Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969
In diesem Jahr hat die Jury etwas gewagt. Nicht nur der Titel des Siegerromans ist ausufernd, wenig markttauglich und absolut widerborstig, auch das dahinterstehende Buch hat es in sich. Ein 13-Jähriger inmitten der Nachkriegs-BRD. Ich musste mich ihm geschlagen geben. Ich habe das Buch gehört – vom Autor selbst eingelesen – und bin sehr weit vorgedrungen. Irgendwann habe ich aber kapituliert. Genialisch – ja, irgendwie und unbedingt. Fordernd, mich überfordernd. Unbedingt einen Versuch wert. Vielleicht auch einen zweiten – auch von mir. Mir bleibt nur, die komplette
Begründung der Jury zu zitieren:
„Frank Witzels Werk ist ein im besten Sinne maßloses Romankonstrukt. Erzählt wird die Geschichte eines Jungen aus der hessischen Provinz, der sich im Alter von dreizehneinhalb auf der Schwelle zum Erwachsenwerden befindet. In diese Geschichte eingewoben ist das politische Erwachen der alten Bundesrepublik, die beginnt, sich vom Muff der unmittelbaren Nachkriegszeit zu befreien. Diese Ära des Umbruchs wird heraufbeschworen in disparaten Episoden, die unterschiedlichste literarische Formen durchspielen, vom inneren Monolog über die Action-Szene oder das Gesprächsprotokoll bis zum philosophischen Traktat. Der Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ ist in seiner Mischung aus Wahn und Witz, formalem Wagemut und zeitgeschichtlicher Panoramatik einzigartig in der deutschsprachigen Literatur. Frank Witzel begibt sich auf das ungesicherte Terrain eines spekulativen Realismus. Mit dem Deutschen Buchpreis wird ein genialisches Sprachkunstwerk ausgezeichnet, das ein großer Steinbruch ist, ein hybrides Kompendium aus Pop, Politik und Paranoia.“
Rolf Lapperts „Über den Winter“ und Anke Stellings „Bodentiefe Fenster“ waren in dem Jahr meine Favoriten. Ersterer hat es zumindest auf die Shortlist geschafft.
2016
2016 war mein bisheriges „Deutscher-Buchpreis-Jahr“. Da ich bei einem „Welche Titel kommen auf die Shortlist-Gewinnspiel“ auf Facebook ganz gut getippt hatte, durfte ich bei der Verleihung des Preises im Kaisersaal des Frankfurter Römers dabei sein. Ich hatte gerade mit meinem Blog begonnen und stand nun plötzlich inmitten der Buchszene, saß zwischen Kritiker:innen und Verlagsmenschen. Ganz schön aufregend! Zur 2016-Shortlist hatte ich ein eher zwiespältiges Verhältnis. Mir gefiel eigentlich nur ein Titel wirklich gut, Eva Schmidts „Ein langes Jahr“, dem ich aber nur sehr geringe Chancen einräumte. Meine Befürchtung sollte sich bewahrheiten, Bodo Kirchhoffs „Roadtrip“ in Altherrenmanier gewann tatsächlich den Preis, ein Buch, dem ich wirklich nichts abgewinnen konnte. Zum Inhalt:
„Reither, bis vor kurzem Verleger in einer Großstadt, lebt nun in einem idyllischen Tal am Alpenrand. Von dort beginnt eine unerwartete Reise bis nach Sizilien. Die, die ihn an die Hand nimmt, ist Leonie Palm, zuletzt Besitzerin eines Hutgeschäfts; sie hat ihren Laden geschlossen, weil es an Hutgesichtern fehlt, und er seinen Verlag dichtgemacht, weil es zunehmend mehr Schreibende als Lesende gibt. Als dann nach drei Tagen im Auto am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, schließt sich ihnen ein Mädchen an, das kein Wort redet.“
Aus der Begründung der Jury:
„Kirchhoff gelingt es, in einem dichten Erzählgeflecht die großen Motive seines literarischen Werks auf kleinem Raum zu verhandeln.“
Meine Rezension zu Widerfahrnis
Schade, dass Joachim Meyerhoff mit seinem genialen „Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ von der Jury auch dieses Mal als zu leicht befunden wurde.
2017
Robert Menasse – Die Hauptstadt
Endlich wieder ein Buch nach meinem Geschmack. Ein politischer Roman, ein EU-Roman, ein Bürokratie-Roman – gibt es ja nicht sehr viele. Sorgfältig recherchiert und leidenschaftlich, mit einem komplexen Figurenensemble und zahlreichen Wendungen, Komödie und Krimi – ein unterhaltsamer, aber auch anspruchsvoller Gewinner.
Aus der Begründung der Jury:
„Dramaturgisch gekonnt gräbt er leichthändig in den Tiefenschichten jener Welt, die wir die unsere nennen. Und macht unter anderem unmissverständlich klar: Die Ökonomie allein, sie wird uns keine friedliche Zukunft sichern können. Die, die dieses Friedensprojekt Europa unterhöhlen, sie sitzen unter uns – ‚die anderen‘, das sind nicht selten wir selbst.“
Für mich war eigentlich klar, dass Menasse den Preis (verdient) gewinnen würde, auch wenn Franzobel mit „Das Floß der Medusa“ sehr gute Kritiken bekam und Marion Poschmanns Japan-Roman „Die Kieferninseln“ (beide Shortlist) mein persönlicher Favorit war.
2018
Ich erinnere mich, dass die Auszeichnung von Archipel, das fast 100 Jahre kanarische Geschichte erzählt, nicht unumstritten war. Zahlreiche Leser:innen mochten das Buch nicht. Ich hingegen mochte es sehr und war sehr zufrieden mit der Entscheidung.
Ein Motiv für die Nominierung und Wahl des Romans war sicher der unkonventionelle, ambitionierte Aufbau von „Archipel“. Denn die Geschichte um im Zentrum drei Familien unterschiedlicher Gesellschaftsklassen wird rückwärts erzählt, ausgehend vom Jahr 2015 bis zurück ins Jahr 1919. Dies ist das Geburtsjahr von Julio Baute, den wir als „el portero“ gleich zu Beginn kennenlernen und dessen Lebenszeit das Buch umspannt. Er ist damit die heimliche Hauptfigur des figurenreichen Romans. „El portero“ ist der Pförtner im Altenheim von San Borondón, wo die demenzkranken Bewohner:innen ihre Vergangenheit langsam vergessen.
Rosa, die Enkelin ist gerade vom Festland heimgekehrt. Diese Konstellation mit unterschiedlichen Sozial- und Altersstufen erlaubt Inger-Maria Mahlke nun, eine ganze Reihe von Themen anzuschneiden: das berufliche Scheitern, die Perspektivlosigkeit junger Menschen in Spanien (und besonders auf den Kanaren), der Generationenkonflikt, Alter, Demenz, Tourismus, Umweltpolitik, politische Machenschaften, soziale Determination und und und. Meiner Meinung nach ist ihr das famos gelungen. Inger-Maria Mahlke ist mit „Archipel“ ein toller Roman mit einer anspruchsvollen, aber überzeugenden Konstruktion gelungen.
Die Jury meinte dazu:
„Der Archipel liegt am äußersten Rand Europas, Schauplatz ist die Insel Teneriffa. Gerade hier verdichten sich die Kolonialgeschichte und die Geschichte der europäischen Diktaturen im 20. Jahrhundert. (…) Vor allem aber sind es die schillernden Details, die diesen Roman zu einem eindrücklichen Ereignis machen. Das Alltagsleben, eine beschädigte Landschaft, aber auch das Licht werden in der Sprache sinnlich erfahrbar. Faszinierend ist der Blick der Autorin für die feinen Verästelungen in familiären und sozialen Beziehungen.“
2018 war für mich ein starker Jahrgang. Gert Loschütz hat mit Ein schönes Paar und Arno Geiger mit Unter der Drachenwand Romane vorgelegt, die die Auszeichnung durchaus auch verdient gehabt hätten. Beide haben es leider nicht einmal auf die Shortlist geschafft. Dort stand (verdient, aber zum dritten Mal nicht ausgezeichnet) Stephan Thome mit seinem Gott der Barbaren, ein fulminanter historischer Roman.
2019
Selten war mir ein Siegertitel im Vorhinein so sicher gewesen wie dieser einfallsreiche, originelle, warmherzige Roman. Am besten zitiere ich einfach, was der Autor selbst zu seinem Buch sagt:
„HERKUNFT ist ein Buch über den ersten Zufall unserer Biografie: irgendwo geboren werden. Und was danach kommt. HERKUNFT ist ein Buch über meine Heimaten, in der Erinnerung und der Erfindung. Ein Buch über Sprache, Schwarzarbeit, die Stafette der Jugend und viele Sommer. Den Sommer, als mein Großvater meiner Großmutter beim Tanzen derart auf den Fuß trat, dass ich beinahe nie geboren worden wäre. Den Sommer, als ich fast ertrank. Den Sommer, in dem Angela Merkel die Grenzen öffnen ließ und der dem Sommer ähnlich war, als ich über viele Grenzen nach Deutschland floh. HERKUNFT ist ein Abschied von meiner dementen Großmutter.
Während ich Erinnerungen sammle, verliert sie ihre. HERKUNFT ist traurig, weil Herkunft für mich zu tun hat mit dem, das nicht mehr zu haben ist. In HERKUNFT sprechen die Toten und die Schlangen, und meine Großtante Zagorka macht sich in die Sowjetunion auf, um Kosmonautin zu werden. Diese sind auch HERKUNFT: ein Flößer, ein Bremser, eine Marxismus-Professorin, die Marx vergessen hat. Ein bosnischer Polizist, der gern bestochen werden möchte. Ein Wehrmachtssoldat, der Milch mag. Eine Grundschule für drei Schüler. Ein Nationalismus. Ein Yugo. Ein Tito. Ein Eichendorff. Ein Saša Stanišić.“
Die Jury meinte:
„Mit viel Witz setzt er den Narrativen der Geschichtsklitterer seine eigenen Geschichten entgegen.“
Ein ganz großartiger Gewinner!
2020
Ein ganz besonderes Buchpreis-Jahr! Nicht nur weil die Präsentation und Verleihung des Preises pandemiebedingt ganz anders als üblich war, sondern auch, weil die Shortlist wirklich grandios war. Alle Titel hätten den Preis irgendwie verdient gehabt, nur Iris Wolffs Die Unschärfe der Welt hat dort gefehlt und schaffte es nur auf die Longlist. Aber ob Deniz Ohdes Streulicht, Thomas Hettches Herzfaden oder eben der Siegertitel – ganz großartige Romane.
Das Heldinnenepos erzählt auf ganz besondere Art und Weise die Lebensgeschichte der 1923 in der Bretagne geborenen, in einfachen Verhältnissen aufgewachsenen Anne Beaumanoir , die im Zweiten Weltkrieg als Mitglied der kommunistischen Résistance, zweier jüdische Jugendliche rettete und 1959 wegen ihres Engagements auf Seiten der algerischen Unabhängigkeitsbewegung zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Anne Weber stellt dabei Fragen: Was treibt jemanden in den Widerstand? Was opfert er dafür? Wie weit darf er gehen? Was kann er erreichen?
Aus der Begründung der Jury:
„Es ist atemberaubend, wie frisch hier die alte Form des Epos klingt und mit welcher Leichtigkeit Weber die Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir zu einem Roman über Mut, Widerstandskraft und den Kampf um Freiheit verdichtet.“
Nach diesem Rückblick auf 16 Jahre Deutscher Buchpreis 2005-2020 freue ich mich nun umso mehr, diesen Preis in diesem Jahr als offizielle Buchpreisbloggerin begleiten zu dürfen.
Am 24. August wird die Longlist bekanntgegeben. Eines der nominierten Bücher wird mir dann als „Patenbuch“ zugelost. Mit ihm werde ich mich dann näher beschäftigen und es euch vorstellen. Sicher werde ich aber auch das eine oder andere „Konkurrenzbuch“ lesen und besprechen. Die Einladung zur Buchpreisverleihung am 18. Oktober ist bereits eingetroffen. Ich freue mich sehr! Schaut gerne auf dem Buchpreis-Blog vorbei. Dort werden auch die Beiträge meiner 19 Buchpreisblog-Kolleg:innen erscheinen.
Danke für deine große Rückschau! Ich muss auch sagen, dass mich einige Titel nicht wirklich ansprechen oder eher abschrecken. Aber ich durfte durch den Buchpreis auch einige grandiose Siegertitel kennenlernen. Meine Highlights sind ähnlich zu dir „Der Turm“, „Die Hauptstadt“, „Kruso“ und „Landgericht“, das ich auch bedingungslos als moderne Kohlhaas-Interpretation empfehlen kann.
Ja, es ist jedes Jahr spannend. Auch dein Buchpreis-Lotto. Ich liege da oft sowas von daneben. Dieses Jahr hatte ich mir aber schon 6/20 gesichert. Ganz gute Quote 😉 Liebe Grüße!