Juan Gabriel Vásquez ist der bedeutendste zeitgenössische kolumbianische Autor und sicher einer der wichtigsten Südamerikas. Mit dem magischen Realismus etwa seines Landsmannes Gabriel García Márquez hat der 1973 geborene, lange in Europa lebende Schriftsteller nichts zu tun. Die Romane von Juan Gabriel Vásquez zeichnen wie die Erzählungssammlungen Die Liebenden von Allerheiligen und die neu erschienenen Lieder für die Feuersbrunst ein sachlicher, verknappter Erzählstil aus, wie immer hervorragend übersetzt von Susanne Lange.
Wie in seinem 2018 erschienenen Roman Die Gestalt der Ruinen steht für den Autor auch in den neuen Erzählungen die Gewalt, die in seinem Heimatland seit langem herrscht, im Mittelpunkt. Juan Gabriel Vásquez macht in seinen Texten, besonders auch in seinem umfangreichen und genau recherchierten Roman Die Gestalt der Ruinen, deutlich, dass die Wurzeln dafür viel weiter zurückreichen und viel tiefer gehen als bis zum in den 1980er und 90er Jahren heftig entbrannten Krieg gegen die Drogenkartelle.
Einst die erste Demokratie Südamerikas und der zweite amerikanische Staat nach den USA mit dieser Staatsform, zerrieb sich Kolumbien bereits im 19. Jahrhundert an seiner Parteiendichotomie zwischen Liberalen und Konservativen. Niemals gelang es dem Staat, ein eindeutiges Gewaltmonopol für sich zu etablieren. Interessengruppen wie Großgrundbesitzer oder Militär auf der einen, verarmte Landbevölkerung auf der anderen Seite, bauten auf eigene bewaffnete Kräfte. Paramilitärische Milizen und Guerillagruppen kämpften stets für die Durchsetzung eigener Interessen. Die konservative katholische Kirche spielte dabei ein eigenes Spiel. So fehlt dem Staat bis heute eine überzeugende Legitimität (die Wahlbeteiligung liegt meist weit unter 50 %), Gemeinwohl wird geringgeschätzt, die Justiz ist weitgehend machtlos, ihre Vertreter werden bedroht.
La violencia
Für Juan Gabriel Vásquez liegen die Ursprünge dieser zu einer weiten Verbreitung von Gewalt in der Gesellschaft führenden Fehlentwicklung in den Jahren der „Violencia“, den bürgerkriegsähnlichen Unruhen nach der Ermordung des liberalen Politikers Jorge Eliécer Gaitán 1948, die bis in die 1960er Jahre geschätzt über 200.000 Opfer forderten. Dazu kamen dann die steigende Macht der Drogenkartelle, ein weitverbreiteter Waffenbesitz in der Bevölkerung, die starke soziale Spaltung und eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt in der Gesellschaft.
In seinen neun Erzählungen in Lieder für die Feuersbrunst kreist Juan Gabriel Vásquez nun erneut um das Thema, nähert sich ihm mal indirekt, mal mit voller Wucht.
Es beginnt subtil. In Frau am Ufer erzählt eine Fotografin dem Autor – wie in seinen Romanen ist der Erzähler auch hier Juan Gabriel Vásquez, wieviel autobiografisch, autofiktional oder auch völlig fiktional ist, bleibt offen – eine Geschichte. Sie handelt von der zwanzig Jahre zurückliegenden Begegnung mit der Assistentin eines bekannten kolumbianischen Politikers, die bei einem gemeinsamen Aufenthalt auf der Hacienda von Bekannten einen schweren Reitunfall hatte. Während die junge Frau zwischen Leben und Tod schwebte, bemerkte die Fotografin eine merkwürdige Erleichterung bei betreffendem Politiker, als die Möglichkeit einer bleibenden Amnesie bei der Verunglückten zur Sprache kam. Was dahinter steckte, wurde ihr erst bei einer Wiederbegegnung mit der Assistentin zwanzig Jahre später klar. Hier wird auf sehr diskrete Weise Machtmissbrauch und Gewalt im Privaten angesprochen.
Subtile Gewalt
Oder noch indirekter in der Geschichte Der Doppelgänger. Hier zieht der Erzähler bei der Auslosung, die über Militärdienst oder nicht entschied, das letzte „rettende“ Los und „schickte“ damit seinen Schulfreund Ernesto Wolf in die Kaserne. Kurz vor Ende des Dienstes verunglückt Ernesto bei einem Manöver tödlich. Eine Form der Gewalt?
Näher kommt der Autor ihr etwa in der Geschichte Flughafen. In Paris erhält der Erzähler eine Statistenrolle im Polanski-Film „Die neun Pforten“. Seine Begegnung mit dem berühmten Regisseur dient ihm als Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion des grauenvollen Mordes an Polanskis schwangerer Ehefrau Sharon Tate im Jahr 1969 durch die Manson Family. In Die Jungen beschreibt er die sinnlosen, blutigen Kämpfe zwischen wohlsituierten Jugendlichen in einer Gated Community Bogotás und führt gleichzeitig die Bedrohung von liberalen Justiz- und Medienvertretern parallel.
Gewalt
Am deutlichsten widmet sich Juan Gabriel Vásquez dem Thema Gewalt in der Titelgeschichte Lieder für die Feuersbrunst. Hier erzählt er die Geschichte einer jungen Frau, Tochter einer Europäerin und eines im Ersten Weltkrieg gefallenen Kolumbianers, die als sechsjähriges Mädchen allein – die Mutter war bei der Schiffsüberfahrt gestorben – auf der Kaffeeplantage der Großeltern in der Nähe von Salento eintrifft, dort zu einer unabhängigen, starken Frau heranwächst, ein selbstbestimmtes Leben in der Stadt führt, schwanger wird und als Frau mit unehelichem Kind zu den Großeltern zurückkehrt. Nach der Ermordung von Jorge Eliécer Gaitán gerät sie in den Strudel von „la violencia“.
In dieser letzten, vielleicht berührendsten Erzählung, in der der Autor direkt an seine Recherchen zu Die Gestalt der Ruinen anknüpft, weicht er ein wenig von seiner detail- und recherchefreudigen, dennoch knappen, sachlichen Erzählweise ab, zumindest im letzten Abschnitt. Darin appelliert er auf dringliche, leidenschaftliche Weise gegen die Gewalt und für die Verantwortung des Einzelnen, Stellung zu beziehen und sich zu erinnern.
„Er veröffentlicht das Buch, vielleicht auf eigene Kosten, und lässt es im Keller einer Druckerei verrotten, denn für ihn ist nur wichtig, dass das Buch existiert, denn das ist der einzige Trost, den wir haben, wir Kinder dieses in Brand gesteckten Landes, dazu verdammt, uns zu erinnern, nachzuforschen und zu bedauern und dann Lieder zu verfassen, Lieder für die Feuersbrunst.“
Oder eben Bücher wie die des Humanisten und großartigen Stilisten Juan Gabriel Vásquez.
Samuel Fischer Gastprofessur
Noch bis Ende September 2021 hat Juan Gabriel Vásquez die Samuel Fischer Gastprofessur am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin inne, in deren Rahmen mir die beiden Erzählungsbände Lieder für die Feuersbrunst und Die Liebenden von Allerheiligen zur Verfügung gestellt wurden. Ich habe zu danken.
„Seit mehr als 20 Jahren besetzen Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten für ein Semester die Samuel Fischer-Gastprofessur am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Getragen wird das Programm von der Freien Universität Berlin, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), dem S. Fischer Verlag und Holtzbrinck Berlin – Inspire Together. Ziel ist die kritische Reflexion über die Literaturen der Welt. Die Professur soll den Gedankenaustausch über Landesgrenzen hinweg ermöglichen.“ www.sfischergastprofessur.de
Beitragsbild: Aert van der Neer 1634-1703 Amsterdam Grosse Feuersbrunst by jean louis mazieres (CC BY-NC-SA 2.0) via flickr
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Juan Gabriel Vásquez – Lieder für die Feuersbrunst
Erzählungen
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Schöffling Februar 2021, 240 Seiten. Gebunden. Lesebändchen, € 22,00
Mich verwundert diese harsche abgrenzung vom „Magischen Realismus“ junger AutorInnen, für die Vásquez besonders steht. Verwundert, nicht im marketingtechnischen Sinn, da macht man sowas halt, aber im literaturkritischen, und dass dem so gefolgt wird. Das beginnt damit, MR zu so einem großen Ding zu machen, wo es sich doch weitgehend auf Carpentier, Marquez, Cortazar und vll noch Lima (aber der ist eine ganz eigene Geschichte) & paar Epigonen beschränkt. Und auf der anderen Seite ist der Schnitt nicht so groß „Das Geräusch der Dinge beim Fallen“ ist zwar ohne dezidiert fantastische Elemente, aber das verfallene Anwesen des Drogenbarons, die sich selbstüberlassenen Zootiere usw, das ist eine Art von Atmosphäre, die auch den drei MR-Posterboys einfallen könnte (Llosa zB ab dem 70ern ist mindestens ähnlich „nürchtern“). Und meine Lektüre von „Die geheime Geschichte Costaguanas“ liegt zwar schon lang zurück, aber weil damals die ZEIT dem Thema „Junge AutorInnen vs MR“ viel Raum gab hatte ich mir zahlreiche Passagen herausgesucht, in denen genau mit dieser psychologisch-übersinnlichen Zweideutigkeit gespielt wurde, die die scheinbare Antipode ausmacht. So gerne ich Vasquez bisher immer gelesen habe, diese Frontstellung gegen magischen Realismus, die er ja wohl auch selbst behauptet hat, ergibt für mich wenig Sinn, es sei denn eben weil das sich verkauft. Ohne Beef könnte man auch einfach eine Linie von Llosa über Bolaño, aber auch Texte von Carpentier u.ä, bei denen auch mal sehr kühl zugehen konnte und andere nicht „magische“ Autoren ziehen. Dieses „keinesfalls DAS“ stellt spätestens dann Probleme, wenn einem Autor klar wird, dass nicht der Autor, sondern der Stoff den Stil zu finden hat, und MR möglicherweise einfach der adequate Ausdruck bestimmter Stoffe sein mag…
Hallo Sören, ich glaube, die Abgrenzung vom magischen Realismus ist vor allem ein Dinge der Rezeption südamerikanischer Autoren, vor allem in Europa. Ich habe das in meinen Beitrag auch nur deshalb aufgenommen, nicht um den MG in irgendeiner Form zu diskreditieren. Mir ist aber tatsächlich erst in der letzten Woche, als ich ein bisschen für dieses Buch getrommelt habe zweimal so ziemlich als erste Frage zum Autor die nach dem MG gestellt worden. Also durchaus berechtigt, das klarzustellen. Juan Gabriel Vásquez habe ich selbst – und ich war zweimal auf Lesungen und habe auch letztens eine Veranstaltung online gesehen – noch nie zu dem Thema Stellung nehmen hören. Deshalb denke ich, dass man ihm da auch keine Marketing-Hintergedanken unterstellen muss. „Die geheime Geschichte Costaguanas“ kenne ich tatsächlich nicht, habe aber schon gehört, dass sie nicht unbedingt typisch ist. Und zu den freilaufenden Tieren, der Verfallenen Villa: das sind nun mal die Hinterlassenschaften von Escobar, ganz real. Du siehst also, ich verteidige schon den Unterschied zum MG ;), auch wenn ich diesen genauso schätze. Danke wieder einmal für deinen ausführlichen Kommentar. Gruß, Petra