Geschrieben hat sie Short Stories schon immer. Nun veröffentlicht Zadie Smith ihren ersten Erzählungsband, Grand Union. Handlungsorte sind Smiths Heimatstadt London, New York, wo sie an der New York University kreatives Schreiben unterrichtete und verschiedene Ort in Europa. So divers wie die Schauplätze sind auch die Themen, Perspektiven und Erzählweisen. Von ganz klassischen Short Stories über dystopische Settings zu sehr experimentell angelegten Geschichten bietet die Sammlung ein Kaleidoskop von Betrachtungen unseres gegenwärtigen Lebens, das so schnelllebig, schwer zu greifen und zu verstehen ist. Themen, die überall aufblitzen sind die aus ihren bisher fünf Romanen bekannten: Rassismus, Klassismus und Sexismus.
Stimmungslagen
Nicht immer macht Zadie Smith das so direkt und unverhohlen wie in „Stimmungslagen“, wo sie assoziativ über den Lebensentwurf einer gealterten Ex-Punkerin, einer aus einfachen Verhältnissen stammenden Studierenden, der zweifelhaften Rolle sozialer Medien und dem Vergehen der Zeit allgemein räsoniert und sich recht deutlich als Erzählstimme selbst zu erkennen gibt, wenn sie im Telefonbuch „voller Begeisterung beim gängigsten Nachnamen Englands landeten und zueinander sagten, ach da sind wir ja da sind wir da sind wir da sind wir da sind wir.“
Die bisher am häufigste besprochene Geschichte der Sammlung handelt von der gealterten Dragqueen Adele, die ein neues Korsett benötigt und dafür (etwas unerklärlich) in einen kleinen, von einem Ehepaar geführten Miederwarenladen geht. Von der schroffen Art des Besitzers und seinen in fremder Sprache geführten Reden fühlt sich Adele sofort diskriminiert und beleidigt und es kommt zum Eklat, wobei sich Adele selbst äußerst rassistisch und fremdenfeindlich verhält.
Wie in den meisten Erzählungen lässt Zadie Smith offen, ob Adele überreagiert hat oder tatsächlich eine Diskriminierung stattgefunden hat. Das darf die Leserin entscheiden. Überhaupt fordert die Autorin ihre Leser:innen heraus. Sie werden meist direkt ins Geschehen geworfen, erläuternde Hinweise spart Smith sich.
Flucht aus New York
So ist die – auf eine mehr als anzweifelbare, von der Vanity Fair lancierte Anekdote aufbauend – erzählte „Flucht aus New York“ zwar relativ einfach am 11. September 2001 zu verorten und auch zwei der „Fliehenden“ leicht als Elizabeth Taylor und Marlon Brando zu identifizieren, aber erst eine kleine Internetrecherche wies auf Michael Jackson als den dritten im Bunde. Was die Qualität dieser absurden, satirisch überspitzten Episode aber nicht schmälert.
Diesen Dreh ins Absurde, manchmal leicht Surreale, den oft bitterbösen Humor und den tiefschwarzen Blick auf die Welt haben eigentlich alle der 19 Geschichten. Dabei bleibt Zadie Smith immer auch selbstironisch, denunziatorisch ist keine der Stories in Grand Union. So moralisch die Autorin hier ist – ihre entschiedene Haltung kommt immer durch -, so wenig moralisierend kommt das Buch daher. Einen erhobenen Zeigefinger sucht man vergebens. Ebenso aber auch Antworten auf die angestoßenen Fragen.
Krisen und Depression sind genauso Thema wie das „schicke“ Leben Downtown Manhattan; die Auswüchse einer Woke-Kultur und Denunziationen in den sozialen Medien ebenso wie das träge Mitschwimmen im Mainstream.
In „Kelsos Dekonstruktion“ erzählt sie von Kelso Cochrane. Der 32jährige Westinder wurde 1959 in Nottinghill aus rassistischen Gründen von einer Gruppe weißer Jugendlicher brutal ermordet. In „Zwei Männer kommen ins Dorf“ bekommt sexualisierte Gewalt etwas Zeitloses, Universelles – sehr eindrücklich. Insgesamt eine große Themen- und Stimmenvielfalt. Das geht nicht völlig auf, der Sammlung fehlt eine große Klammer, manchmal wirkt die Zusammenstellung zu inhomogen. Jeder wird aber etwas anderes für sich herauspicken können.
wichtige Woche
Neben der Geschichte von Adele mochte ich zwei der eher klassischen Stories am liebsten. In „Wichtige Woche“ begleiten wir Michael McRae. Nach einem Unfall in die Opioid-Sucht gerutscht – ein leider in den USA weit verbreitetes Schicksal, da diese starken Schmerzmittel viel zu unkritisch verschrieben wurden -, verliert er seinen Job als Polizist, seine Frau und nahezu sein gesamtes Sozialleben. Beharrt aber darauf, ein gutes Leben zu führen. Und in Für den König begleiten wir zunächst die Erzählerin zu einem Treffen mit einem alten Freund in Paris. Man spricht beim Essen über alte Zeiten und das Altern überhaupt. Dabei verpasst es die Erzählerin von der sie eigentlich sehr bewegenden Begegnung mit einer Frau und ihrem am Tourette-Syndrom leidenden Sohn ihrer Zugfahrt nach Paris zu erzählen. So schlicht wie bewegend.
Man muss sich einlassen auf die Geschichten von Zadie Smith in Grand Union, sie vielleicht auch eher einzeln als am Stück lesen. Dann kann man einer großartigen Autorin nicht nur beim sprachlichen Experimentieren zuhören, sondern auch sehr viel aus diesen diversen Texten mitnehmen. Bei mir klingen viele davon sicher noch lange nach.
Beitragbild2021 via Flickr by R~P~M (CC BY-NC-ND 2.0)
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Zadie Smith – Grand Union
Übersetzt von: Tanja Handels
Kiepenheuer&Witsch Juni 2021, gebunden, 272 Seiten, € 22,00
Hallo Partner, seit langem lese ich mit Vergnügen und manchmal auch Erregung die Texte zur Literatur und Literaturgeschichte. Ich sitze an Episoden aus dem Leben des Heinrich von Kleist und seinen Freunden und Lehrern. Da ich fühle, dass uns manches verbindet, hier ein Hinweis auf einige meiner letzten Produkte bei WordPress: „Die Trauernde – Wilhelm von Bode und Fritz Klimsch“ (www.wordpress.com/post/josias.blog/81), „Luise – Königin der Herzen“ (www.wordpress.com/post/josias.blog/324), „Adolf Sydow – Kirche und Politik“ http://www.wordpress.com/post/josias.blog/364). Vielleicht folgen Sie der Serie und setzen Kommentare hinzu, wenn es Sie reizt. Beste Grüße aus Berlin Dr. Dieter Weigert