Sommerlektüre – Von Räubern, einem Monat in Siena, Kunst und der Unschärfe der Welt

Kleiner Nachtrag zu meiner Sommerlektüre. Vor meinem Urlaub hatten sich zum Glück so einige Rezensionen aufgestaut, so dass ich in den 18 Tagen Italien tatsächlich nicht „arbeiten“ musste und bereits Fertiges veröffentlichen konnte. Gelesen habe ich natürlich dennoch und damit es nicht einen noch größeren „Nachurlaubsstau“ gibt, fasse ich meine Urlaubslektüre mal in einem Sammelbeitrag zusammen. Tolle Bücher, jedes hätte eigentlich einen eigenen langen Post verdient – alles uneingeschränkte Empfehlungen!

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Eva Ladipo - Räuber

Eva Ladipo – Räuber

Eva Ladipo hat einen so unterhaltsamen wie relevanten Roman über den Immobilienmarkt (nicht nur) der Hauptstadt und die über die Einwohner hinwegbrausende Gentrifizierungswelle geschrieben. In wechselnden Perspektiven erzählt sie von Olli Leber, Amelie Warlimont und Falk Hagen, alle drei direkt von ihr betroffen. Olli Leber lebt mit seiner Hartz IV beziehenden Mutter in einer Sozialwohnung am Berliner S-Bahn-Ring. Einst war die Familie direkt im Herzen des Prenzlauer Berges beheimatet. Irgendwann konnten der Bauarbeiter und die Krankenschwester dort die Mieten nicht mehr bezahlen und wichen an den Rand des Viertels aus. Aber auch dort stiegen die Preise, die Sozialwohnung sollte nun ein stabiler Hafen sein. Bei der jetzigen Gentrifizierungsdebatte wird oft nicht erwähnt, dass bereits vor ca. zwanzig Jahren die große Verdrängung stattfand, als nämlich die niedrigen Einkommensklassen die begehrten Innenstadtvierteln verlassen mussten, weil die jetzt von der Gentrifizierung bedrohten Mittelklassefamilien dorthin zogen und die Preise steigen ließen. Die Lage der Familie Leber verschlechterte sich, als der Vater auf dem Bau einen schweren Unfall erlitt. Die Unfallkasse zahlte nicht, weil der obligatorische Helm nicht getragen wurde. Die Mutter glitt ab in Depressionen, konnte ihren Beruf nicht mehr ausüben, schließlich starb der Vater an den Unfallfolgen. Nun droht mit dem Ende der Sozialbindung der Wohnung Schlimmes. Die „Europäische Wohnen“ – der Name ist wohlgewählt – plant die grundlegende Renovierung der Wohnanlage und damit faktisch die Entmietung der meisten Bewohner.

Eva Ladipo, die politische Journalistin, schreibt anspielungsreich. Der ehemalige Berliner Finanzsenator Falk Hagen, der einst die Sozialwohnungen in großem Stil verkauft hat, erinnert an einen ganz bestimmten Typ Politiker.

„Sozialdemokraten von gestern, die liberaler ticken als die Konservativen, damit die eigene Partei zugrunde gerichtet haben und sich seitdem die Taschen in der Wirtschaft vollstopfen.“

Mit ihm hat die Journalistin Amelie Warlimont noch eine Rechnung offen und verbündet sich deshalb mit Olli Leber und seiner Mieterinitiative. Sie selbst ist seit der Geburt ihres zweiten Kindes ständig überlastet und übermüdet, in ihrem Ehemann Stefan hat sie kaum Unterstützung, denn der ist gerade im Dauerstress, seitdem er als Chefredakteur die Berliner Regionalzeitung retten will, indem er sie einem Investor schmackhaft machen muss. Auch die Affäre mit einer Kollegin lastet auf der Ehe. So sieht man Amelie also selten ohne Kinderwagen. Dennoch fällt den Beiden ein waghalsiger Plan gegen Falk Hagen ein.

Spannend, lustig, mit treffenden Dialogen fesselt Eva Ladipo über mehr als 500 Seiten und streift dabei höchstens mal ganz leicht die bekannten Klischees. Und bleibt auch beim unerwarteten Ende angenehm realitätsnah. Sehr empfehlenswerter Roman, so unterhaltsam wie erhellend.

Eva Ladipo – Räuber
Blessing, Hardcover mit Schutzumschlag, 544 Seiten
Preis: € 24,00 

 

Hisham Matar Ein Monat in SienaHisham Matar – Ein Monat in Siena

Die Kindheit von Hisham Matar war eine der vielen Stationen. 1970 in New York geboren, verbrachte seine frühe Kindheit im Heimatland Libyen, wurde mit den Eltern nach Kenia und Kairo vertrieben und ging dann 1986 nach London, wo er auch heute noch lebt. 1990 wurde sein Vater, Regimegegner Muammar al-Gaddafis vom libyschen Geheimdienst entführt, inhaftiert und gilt seitdem als verschollen. Auf diese tragischen Ereignisse kommt Hisham Matar immer wieder schreibend zurück, beispielsweise in seinen hervorragenden Memoiren Hisham Matar – Die Rückkehr. Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater. Mit seinem Vater verbindet ihn eine Liebe zu Italien und der italienischen Kunst. Nach dessen Verschwinden boten ihm besonders Maler der Schule von Siena Trost. Diese von Byzanz geprägte Kunstrichtung des 14./15. Jahrhunderts mit Vertretern wie Duccio di Buoninsegna, Giovanni di Paolo und Ambrogio Lorenzetti schaute er sich besonders in der National Gallery, aber auch auf vielen Stationen im Ausland wieder an. Nach Abschluss von Die Rückkehr entschied er sich für einen längeren Aufenthalt in Siena selbst. Die Stadt mit ihrer weitläufigen Piazza del Campo und ihren engen Bindungen an die Stadtteile, die contrade, faszinieren Matar. Lange Stunden verbringt er vor in Museen, vor Gemälden (die in prächtigen Abbildungen im Buch zu finden sind). Besonders die „Allegorie der guten und schlechten Regierung“ fesselt ihn. In 15 kurzen Kapiteln lässt Matar die Leser:innen an seinen Kunsterlebnissen, an Stadtgeschichte, seinen Streifzügen durch die Straßen, auf den Friedhof, die Stadtränder teilhaben. Ein Kapitel widmet er dem Schwarzen Tod. Immer wieder kommt er auch auf seinen Vater zurück. Das ist anregend und fesselnd. Die Kenntnis von Die Rückkehr und/oder Interesse an Italien und italienischer Kunst sollten die Leser:innen allerdings mitbringen. Hervorzuheben ist die Qualität der Buchgestaltung: schönes Cover, hochwertiges Papier, brillante Reproduktionen.

Hisham Matar – Ein Monat in Siena
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Luchterhand, Hardcover mit Schutzumschlag, 160 Seiten
Preis: € 16,00

 

Albert Vigevani - Ein kurzer Spaziergang

Alberto Vigevani – Ein kurzer Spaziergang

Ein richtiges Kleinod ist die kurzer Erzählung, die in der Friedenauer Presse, die seit Kurzem unter dem Dach von Matthes&Seitz ein neues Zuhause gefunden hat, erschienen ist.

Alberto Vigevani (1918-1999) erzählt autobiografisch. Bei einer Suchaktion auf dem Dachboden des Familienlandhauses stößt er auf einen Überseekoffer, den er und seine Braut einst von einer Tante zur Hochzeit geschenkt bekommen haben. Anders als die Tante und ihr Mann, gelang es dem jungen Ehepaar 1943, als auch Italien die Judenverfolgungen verstärkt wurden, ins Ausland zu entkommen. Angesichts des Koffers fluten die Erinnerungen heran, unter anderem an die Geschichte über die Internierung von Tante Jole und Onkel Giorgetto im Gefängnis San Vittore in Mailand, ihrer letzten Station vor der Deportierung nach Auschwitz. Dort kam Giorgetto durch einen Zufall frei. Eine Freiheit, die er nur für einen kurzen Spaziergang nutzte. Einen Spaziergang, den sich Vigevani nun imaginiert.

„Außer dem von mir eingeholten Zeugnis ist keines vorhanden. Keine geschriebene Zeile, kein Satz. Sie verschwanden nicht im Nichts, sondern im Grauen.“ Vigevani setzt ihnen mit seiner Erzählung ein Epitaph. Zart und poetisch und sehr traurig.

Alberto Vigevani – Ein kurzer Spaziergang
Friedenauer Presse, 76 Seiten, Broschur mit Schutzumschlag
Übersetzung: Marianne Schneider
Preis: 16,00 €

 

Iris Wolff Die Unschärfe der Welt

Iris Wolff – Die Unschärfe der Welt

Schon viel zu lange lag Iris Wolffs 2020 für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominierter Familienroman auf meinem SUB. Dabei wusste ich spätestens nach der Lesung von Iris Wolff in Frankfurt, dass mir dieses Buch sicher gefallen wird. Und, keine Überraschung, es war so.

Bilderreich, sinnlich und poetisch erzählt die 1977 in Hermannstadt geborene, 1985 nach Deutschland emigrierte Wolff von einer Familie im Banat. Die Großmutter Karline hatte noch den rumänischen König getroffen, Sohn Hannes stemmt sich als evangelischer Pfarrer leise gegen die Unterdrückung durch die Ceaucescu-Diktatur, bietet freidenkenden DDR-Bürgern Ferienunterkunft und wird deswegen von der Securitate beobachtet. Der Sohn von Hannes und Florentine verliebt sich in die Tochter des Geheimdienstspitzels Kontanty und flieht schließlich mit seinem besten Freund Oz nach Deutschland. Die Geschichte beginnt in den Siebziger Jahren und führt bis in die Gegenwart mit Samuels Tochter Livia. Iris Wolff erzählt über das Vergehen der Zeit, über die Zeit als solche.

„Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte“, heißt es einmal im Roman, „und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war als ein einziger Augenblick.“

Die Zeitläufte der Welt bleiben dabei unscharf, im Hintergrund. Umso plastischer gelingen ihr die Protagonisten, deren Perspektiven in den sieben Kapiteln aufgenommen werden. Es entsteht ein dichter, gerade mal gut 200 seitiges, intensiver Familienroman, in dem die Erinnerung im Mittelpunkt steht.

„(Sie) fragte sich, was sie eigentlich von diesen Menschen wusste. Und wenn sie nichts wusste, dann wussten auch die anderen nichts, und statt einer langen Reihe an Erinnerungen gab es nur ein fortschreitendes Verschwinden, Vergessen, bis von früheren Ereignissen allein Gemeinplätze übrig waren, kein echtes Wissen, nur überlieferte Deutungen; ein ganzes Leben mit all seinen Widersprüchlichkeiten konnte zusammengefasst werden in wenigen Sätzen.“

Dieses Buch hätte es unbedingt auf die Shortlist des vergangenen Buchpreises schaffen müssen, auch wegen Sätzen wie diesen:

„Die Erinnerung ist ein Raum mit wandernden Türen. Manchmal trifft dich der Schatten eines Berges, manchmal ein Wort. Du gehst einen Hügel hinauf, trägst einen Korb Äpfel, wäschst das Haar, und mit einem Mal öffnet sich eine Tür. Eines Morgens dann willst du nicht mehr aufstehen, hast zu nichts mehr Lust. Weil die Erinnerung reicht.“

Iris Wolff – Die Unschärfe der Welt
Klett-Cotta, 216 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
Preis 20,00 € 

 

Kristof Magnusson - Ein Mann der KunstKristof Magnusson – Ein Mann der Kunst

Kristof Magnusson, der bewundernswert vielseitig in der Wahl seiner Romansujets ist, hat diesmal den Kunstbetrieb zum Thema gewählt. In seinem höchst unterhaltsamen, klugen Roman Ein Mann der Kunst lässt er einen höchst sperrigen Malerfürsten mit dem Förderverein eines Kunstmuseums zusammenprallen. Dieses Frankfurter Museum Wendevogel plant unter seinem ehrgeizigen Direktor Neuhuber einen von Bund und Land geförderten Anbau. Bedingung für den Fluss der Mittel ist neben einer gewissen Einzigartigkeit der geplanten Ausstellung eine Vorfinanzierung über 500.000 Euro. Und hier kommt der Förderverein ins Spiel. Und ein Problem. Denn einige Mitglieder sind alles andere als überzeugt vom anvisierten Künstler, dem der Anbau gewidmet sein soll. Dieser KD Pratz, ein Beuys-Schüler, der in einem Atemzug mit Kiefer, Richter und Baselitz genannt wird und einst eine heiße Affäre mit Marina Abramovic hatte, gilt als sperrig und misanthropisch. Um den Förderverein von dieser Wahl zu überzeugen, plant man eine Busreise zur Burg Ernsteck, in der der Maler zurückgezogen residiert mit anschließender Atelierbesichtigung. Unter der Führung von Vereinsvorsitzender Ingeborg Marx machen sich zahlreiche wohlsituierte und kunstbeflissende Menschen auf Richtung Rheingau. Dort kommt es zu herrlich boulevardesken Szenen, ohne albern zu werden. Der Kunstbetrieb wird satirisch durchleuchtet, aber die Zuneigung des Autors zu den Figuren, ob zum grantelnden KD Pratz oder zu den eifrigen Kunstliebhabern, bleibt immer spürbar. Zur Hochform läuft Kristof Magnusson in den komischen Dialogen auf, deren Paradebeispiel die Unterhaltung von Constantin Marx, mitreisender Sohn der Vorsitzenden, Ich-Erzähler und seines Zeichens Architekt, mit KD Pratz bei im Autoradio laufender Bundesligakonferenz ist. Köstlich, liebevoll, klug und spöttisch. Tolles Buch!

Kristof Magnusson – Ein Mann der Kunst
Kunstmann Verlag, 240 Seiten, gebunden
Preis 22,00 € 

 

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