Donna Leon – Flüchtiges Begehren

Seit fast dreißig Jahren ermittelt der kultivierte, gebildete und mit besten Manieren versehene Guido Brunetti für die Questura in Venedig. Anders als viele seiner literarischen Ermittlerkollegen ist Brunetti frei von persönlichen Abgründen oder Lastern, liebt gutes Essen, seine Familie und die klassischen Autoren. Seinen Plinius oder Tacitus in der Hand, ein gutes Glas Wein in der Nähe, hat er seit jeher ein entspanntes Verhältnis zu seiner Arbeit. Das kommt seinen LeserInnen zugute, können sie ihn doch so auf seinen ausgedehnten Spaziergängen durch die Gassen Venedigs und in die vielen kleinen Cafés und Trattorien begleiten. So auch im neuesten Fall von Donna Leon: Flüchtiges Begehren.

Hier erscheint der Commissario nun ein wenig melancholisch. Vielleicht ist es der Nebel, der zum beginnenden Herbst heraufzieht, vielleicht das erste Acqua alta, das die Piazza San Marco unter Wasser setzt. Vielleicht auch das Alter. Brunetti hadert schon länger mit seiner von den Touristen überrollten Stadt, mit den Problemen in der venezianischen Gesellschaft, mafiösen Strukturen, politischer Inkompetenz. Zum ersten Mal aber liebäugelt er mit dem Umzug aufs Land.

Verletzte Touristinnen

Eines Nachts werden zwei junge amerikanische Touristinnen schwerverletzt vor dem Ospedale civile, dem städtischen Krankenhaus, gefunden. Die eine ist ohne Bewusstsein, die andere erinnert sich an nichts. Ein Sexualdelikt kann ausgeschlossen werden und Dank der Videoüberwachung werden sehr schnell zwei junge Venezianer identifiziert, die die Mädchen dort zurückgelassen haben. Die Beiden haben die Amerikanerinnen am Vorabend auf dem Campo Santa Margherita kennengelernt und sie zu einer nächtlichen Bootstour auf der Lagune eingeladen. Dort kam es zu einem Bootsunfall. Warum aber haben die jungen Männer keine Hilfe geholt, die Verletzten nicht ins Krankenhaus gebracht, sondern sind von dort geflohen? Warum verstricken sie sich in Falschaussagen? Und warum hat der eine solche Angst vor seinem Onkel, der Eigentümer des Bootes ist?

Zusammen mit seiner Kollegin Claudia Griffoni, die seit einigen Fällen neapolitanisches Temperament und ein wenig Frauen-Power in die Romane bringt, wittert Brunetti hinter dem Unfall ein weitaus größeres Verbrechen als unterlassene Hilfeleistung. Eine junge Prostituierte aus Nigeria bringt sie auf die richtige Spur. Und in gefährliche Gewässer.

Vita lenta

Wie immer dauert es eine Weile, bis die Ermittlungen in Gang kommen. Zeit, um mit dem Commissario durch die Serenissima zu streifen, ein Tramezzino zu verspeisen und über die Welt nachzudenken. Donna Leon integriert auf subtile Art sogar die Corona-Pandemie in ihren Roman. Er spielt in einem unbestimmten Danach, noch fehlen die Touristenmassen, noch kämpft man mit den finanziellen Einbußen, die das bedeutet. Die Kreuzfahrtschiffe allerdings sind schon wieder da und verschandeln die Stadt.

Auf den letzten zwanzig Seiten entwickelt der Roman dann noch eine unglaubliche Rasanz. Das Ende bietet fast einen kleinen Cliffhanger. Wie gut zu wissen, dass Donna Leon bereits an ihrem 31. Brunetti-Roman arbeitet.

 

Sehr charmant ist auch, dass der Diogenes Verlag anlässlich des Jubiläums einen Band für Brunetti-Liebhaber veröffentlicht. Mit Brunetti durchs Leben heißt das Brevier für nachdenkliche Optimisten, in dem Gabriella Gamberini Zimmermann viele viele schöne Zitat aus allen bisherigen Brunetti-Romanen nach alphabetisch geordneten Stichworten versammelt. Eine wirklich schöne Idee für Fans und eine tolle Geschenkidee für Leser:innen, die schon alle Folgen im Regal stehen haben.

 

Der Bücheratlas hat den Jubiläumsband auch bereits besprochen.

Die vorangegangenen Fälle:

Donna Leon – Stille Wasser

 Sohn ist uns gegeben 

Geheime Quellen

 

Beitragsbild: Rialto Brücke by Freimut (CC BY-NC-SA 2.0) via Flickr

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donna-leon-fluechtiges-begehren.

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Donna Leon – Flüchtiges Begehren
übersetzt von Werner Schmitz
erschienen am 26. Mai 2021, Hardcover Leinen, 320 Seiten, 24.00

 

 

Mit Brunetti durchs Leben.

Mit Brunetti durchs Leben
Brevier für nachdenkliche Optimisten
Herausgegeben von Gabriella Gamberini Zimmermann

Diogenes Mai 2021, Hardcover Leinen, 400 Seiten, € 24,00

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