Nach der Vorstellung meiner Urlaubslektüre folgen nun die Kurzvorstellungen der restlichen im August gelesenen Bücher. Hier habe ich nun mit der Lektüre von Herbstneuerscheinungen begonnen und bereits einige sehr schöne Titel entdeckt. Die nächsten Wochen werden dann wohl für einige Longlist-Titel, vor allem auch für mein Patenbuch beim #Buchpreisbloggen – Mithu Sanyals-Identitti – verwendet werden. außerdem steht noch ein Projekt zum Buchmessen-Gastland 2021 – Kanada an. Darauf dürft ihr auch gespannt sein. Also reichlich zu tun hier auf LiteraturReich. Ich freue mich sehr darauf. Nun aber erst einmal zu meiner Lektüre im August 2021.
Christian Dittloff – Niemehrzeit
Innerhalb von vier Monaten starben 2018 sowohl Vater als auch Mutter des Autors. Ein Trauerbuch also, ein Abschiedsbuch. Anders als viele seiner Schriftstellerkolleg:innen, die das gleiche Thema bearbeitet haben, versucht Christian Dittloff in Niemehrzeit nun aber nicht, die Leben seiner Eltern zu rekonstruieren, nachzuempfinden. Die Kapitel „Vater, faktisch betrachtet“ und „Mutter, faktisch betrachtet“ sammeln Informationen über sie zusammen. Klar bleibt aber, dass man so nicht wirklich nah herankommt. Was waren ihre Träume, ihre Sehnsüchte und Hoffnungen? Wer waren sie, abseits ihrer Rolle als Vater bzw. Mutter?Niemehrzeit ist also weniger ein Buch über die verstorbenen Eltern oder die Beziehung zu ihnen. Es ist, der Untertitel verrät es ja, ein Buch über den Abschied. Ein Abschied, der sehr dicht aufeinander folgte und zudem noch in die Zeit der Veröffentlichung von Christian Dittloffs erstem Buch Das weiße Schloss fiel. Ein Abschied, der ein ganzes Jahr und darüber hinaus andauerte, den Autor in seinem Selbstbild ordentlich durchrüttelte und zeitweise schlichtweg überforderte. Christian Dittloff spricht darüber so ehrlich, offen, so verletzlich und ungeschützt, wie ich es bisher nur selten gelesen habe.
Neben Freunden hilft vor allem das Schreiben, aber auch das Lesen. So ist das Abschiedsbuch auch eine große Hommage an die Literatur. So gibt es im Jahr des Abschieds auch immer Momente des Glücks, der Ausgelassenheit, stehen Witz neben Rührung und Trost neben Verzweiflung. Der Autor gibt dabei intensiven Einblick in seinen Schreibprozess und die Veränderungen, die sein Text im Verlauf erfahren hat. Dies und die so offene, detailreiche Schilderung seines Trauerjahres machen zusammen mit der feinen Sprache des Autors dieses Abschiedsbuch zu einem ganz besonderen.
Eine weiteres Trauerbuch, diesmal über den Abschied vom Ehepartner. Wie soll man damit umgehen, dass ein so nahestehender, geliebter Mensch stirbt? Ein Mensch, mit dem man Tag für Tag das Leben und das Bett teilt? Wie soll man damit umgehen, dass dieser Mensch nicht über seinen Tod, nicht über sein Sterben, kaum über seine Krankheit und sein Befinden sprechen möchte? Wie soll man mit der großen Einsamkeit und dem Schmerz, die diese Sprachlosigkeit hervorruft, umgehen? Fragen, die sich Hanne Ørstavik in ihrem schmalen Text Ti amo stellt.
Ti amo ist trotz der großen Traurigkeit, die in ihm aufgehoben ist, doch auch hoffnungsvoll. Es ist auch ein Buch des Aufbegehrens gegen den Tod. Es kämpft für das Leben. Bei einem Mexikoaufenthalt spürt die Erzählerin, dass es sie hinzieht zum Lebendigen, zum Starken, zur Zukunft, zu einem neuen Roman. Dass in ihr immer noch ein Feuer brennt. Einen solch ehrlichen, sich völlig offenbarenden Text literarisch zu beurteilen, fühlt sich fast falsch an. Dennoch: er ist von großer Poetizität und sprachlicher Schönheit. Und damit auch formal ein ganz besonderes Stück Literatur.
Ayelet Gundar-Goshen – Wo der Wolf lauert
„Ich sehe im Geist diese winzigen Fingerchen, die eines Neugeborenen, und versuche zu begreifen, wie sie zu den Fingern eines Mörders heranwachsen konnten.“ Ein Satz, der seine Leser:innen magnetisch hineinzieht in den neuen Roman der israelischen Bestseller-Autorin Ayelet Gundar-Goshen – Wo der Wolf lauert.
Eigentlich hatten Leilach und Michael Schuster gehofft, bei ihrer Übersiedlung von Israel ins Silicon Valley ein für alle Mal die Angst vor diesen „Wölfen“ zurückzulassen. Die Angst vor Bombenanschlägen, Selbstmordattentätern und antisemitischen Bedrohungen. Als Manager in einer Firma, die digitale Sicherheitstechnik auch an das Pentagon verkauft, verdient hier Michael sehr gut. Das Wohnviertel in Palo Alto ist sehr gepflegt, die Nachbarschaft nett und die Schule, auf die ihr sechzehnjähriger Sohn Adam geht, angesehen. Sicherheit ist ein großes, beruhigendes Thema. In diese Idylle bricht der grauenhafte Anschlag auf die örtliche Synagoge, bei dem vier Frauen verletzt und ein junges Mädchen getötet wird. Nach siebzehn Jahren in den USA müssen die Schusters erkennen, dass sie dem Nahost-Konflikt nicht ganz entronnen sind. Er hat sie auf ihrer Insel der Sicherheit eingeholt. Und dann gerät ihr Sohn in Verdacht, etwas mit dem Tod eines Schwarzen Schulkameraden zu tun zu haben.
Ayelet Gundar-Goshen bietet kaum Gewissheiten, dafür ist das Thema von Wo der Wolf lauert auch zu komplex. Kein Schwarz, kein Weiß, viele Leerstellen. Im Gegenzug ist die Autorin, selbst studierte Psychologin, sehr genau in ihrer Figurenzeichnung. Sie liefert treffende Psychogramme ihrer Protagonisten, beleuchtet feinfühlig das Eltern-Kind-Verhältnis, aber auch die Dynamik zwischen den Elternteilen. Neben den Themen Antisemitismus, Rassismus und Klassismus behandelt Ayelet Gundar-Goshen auch Fragen wie die Rolle der Frau in der amerikanischen Gesellschaft, soziale Spannungen, Gruppendynamiken, Fehlgeburt, Versorgung alter Menschen etc. Dass es ihr gelingt, das alles gelungen einzubinden ohne die Geschichte zu überfrachten, ist genauso bemerkenswert wie die enorme Spannung, die sie bis zum Ende wahrt.
Janina Hecht – In diesen Sommern
Der Debütroman von Janina Hecht über die Brüchigkeit einer auf den ersten Blick intakten Familie, rückblickend erzählt von der Tochter Teresa. Erinnerungen in ganz kurzen Episoden, die oft den Sommer in sich tragen, und oft das Motiv Wasser. Wasser, das manchmal einfach nicht trägt. Viele Personen im Roman teilen das Erlebnis des „beinahe Ertrinkens“. Auch die Familie von Teresa offenbart immer mehr, das sie nicht trägt, fragil ist. Man liest mit Vorsicht, mit dem angehaltenen Atem, der auch dort herrscht. Der alkoholkranke, gewalttätige Vater kann auch zugewandt und zärtlich sein. Dann bewundert ihn seine Tochter. Aber das Klima in der Familie hängt auf Gedeih und Verderb von seiner Stimmung ab. Und das lässt sich die heranwachsende Tochter anders als ihre Mutter zunehmend nicht gefallen. Besonders ihren kleinen Bruder will sie beschützen.
Janina Hecht erzählt zurückhaltend, knapp, lässt die Erzählerin auch immer wieder ihre Erinnerungen reflektieren. Oft gelingen ihr auch eindrucksvolle Bilder, fasst sie die Zerrissenheit ihrer Protagonistin gut. Das Ganze aber zu einem wirklich ergreifenden, packenden Buch zu machen, schafft sie leider nicht. Die Episoden stehen eher nebeneinander, runden sich nicht zu einem anschaulichen Bild dieser ungefähr zwanzig Jahre umfassenden Familiengeschichte. Als Leser:in bleibt man nahezu emotionslos, fasst einen die Not dieser Menschen kaum an.
Elke Schmitter – Inneres Wetter
Der Vater Georg wird am 3. Oktober 2014 77 Jahre alt, Tochter Bettina plant einen Überraschungsbesuch der drei übers ganze Land verteilt lebenden Kinder in Westfalen. Von den ersten Planungen im Frühjahr bis zu den „drei Tagen im Herbst“ werden Emails hin und her geschickt, man telefoniert, spürt aber die distanz, die zwischen den Geschwistern herrscht. Die älteste Schwester, Huberta, lebt allein mit einer hochbetagten Hündin in finanziell angespannten Verhältnissen in der hessischen Provinz. Ihre Karriere als Ethnologin ist genauso gescheitert wie ihre gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Sie spricht dem Alkohol mehr zu als ihr gut tut. Bettina lebt in einer etwas langweiligen Ehe mit dem emeritierten Professor Johannes und Sebastian träumt sich aus seiner Verwaltungsjuristenexistenz mit Reihenhaus in München und zwei anstrengenden Teenagerkindern fort zu seiner jungen polnischen Schwimmtrainerin. Seine aus Kroatien stammende Frau Mora verdrängt ihre Langeweile durch jobben in einer Edelboutique und wundert sich auch nach Jahren noch über die Kälte und Beziehungslosigkeit in ihrer deutschen Familie.
Erinnerungen, innere Monologe, Dialoge, Emails – Elke Schmitters breitet die Psyche ihrer Protagonist:innen und die Beziehungsgeflechte zwischen ihnen vor uns aus. Wohlsituierte Akademiker, die, wen verwundert es, dennoch unzufrieden und unglücklich um ihre Lebensmitte plus herumpendeln. Kaum wirkliche Dramen, jede Menge Mikroaggressionen und Unzufriedenheit. Eigentlich langweilt das. Außerdem überpsychologisiert die Autorin ihre Figuren. Ich finde sie, ehrlich gesagt zu langweilig, als dass ich mich wirklich für jede Windung ihres Seelenlebens interessieren würde. Ohne Zweifel kann die Autorin schreiben, und sie hat durchaus auch leisen Humor, insgesamt hat mich das Buch aber nicht abgeholt.
Bov Bjerg – Deadline
Den jüngst erschienenen Roman Deadline des erfolgreichen Schriftstellers Bov Bjerg begleitet eine häufig erzählte Geschichte. 2008 als Debüt des Lesebühnenautors und Literaturinstitutsabsolventen beim Mitteldeutschen Verlag in einer Auflage von 750 Exemplaren erschienen, verkauften sich davon lediglich 224. Die Restauflage, die bei der steigenden Bekanntheit des Autors spätestens nach seinem sehr erfolgreichen Roman Auerhaus (im vergangenen Jahr erhielt Serpentinen dann sogar eine Shortlist-Platzierung beim Deutschen Buchpreis), durchaus nochmal Beachtung hätte finden können, wurde bei einem Lagerbrand 2013 komplett vernichtet. Nun also die Neuauflage im neu gegründeten Kanon-Verlag – wie passend.
Ich-Erzählerin ist Paula, Donuts liebende, übergewichtige Übersetzerin von Gebrauchstexten, die von ihrem Wohnort Boston in die schwäbische Heimat fliegt, um sich um den Grabstein des Vaters zu kümmern. Dessen Liegezeit auf dem Dorffriedhof ist abgelaufen. Bevor Paula im Elternhaus ankommt, erleidet ihre Mutter einen Schlaganfall. Bov Bjerg spielt mit dem Motiv der Deadline – Abgabefrist, Lebensfrist, Frist für menschliche Beziehungen. Der Tod nimmt hier eine dominierende Rolle ein – wie auch in Bjergs Romanen Auerhaus und Serpentinen. Bjerg spielt vor allem aber auch mit der Sprache. Nach eigenem Bekunden ist der Text inspiriert von Internet-Lyrik. Auflistung von Suchmaschinen-Ergebnissen, Aneinanderreihung von Bezeichnungen, Synonyme, die abgetrennt durch Senkrechtstriche durch Paulas Bewusstseinsstrom treiben. Dadurch erhält der Text eine ganz eigene Rhythmisierung und Musikalität. Ein ungewöhnlicher, experimenteller, aber überzeugender Text.
ferner habe ich im August 2021 noch folgende Bücher gelesen, die Vorstellungen findet ihr im Beitrag Sommer-Lektüre