Race, class, gender – Begriffe, die in der interessierten Öffentlichkeit immer mehr an Bedeutung gewinnen und heftig und kontrovers diskutiert werden. Auch immer zahlreichere Buchveröffentlichungen gibt es zu den Themen, sowohl im Sachbuchsegment als auch im literarischen Bereich. Zu Recht wurde im Frühjahr kritisiert, dass sich keines davon unter den für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Bücher befand, geschweige denn, dass eine/r der Autor:innen einen anderen Hintergrund hat als: Deutsch, Weiß, Cis und Hetero. Besonders das Fehlen von zwei Romanen, die im Frühjahr für viel Aufsehen sorgten und größtenteils positive bis begeisterte Kritiken und viel Publikumszuspruch erhielten, wurde beklagt: Sharon Dodua Otoos Adas Raum und Identitti von Mithu Sanyal. Zumindest letzteres befindet sich nun auf der deutlich diverseren Longlist zum Deutschen Buchpreis 2021. Zu meiner großen Freude ist Identitti zudem mein Patenbuch, das ich (hoffentlich) bis zur Bekanntgabe der Gewinner:in am 18. Oktober als offizielle Buchpreisbloggerin medial begleiten darf.
Mithu Sanyal
Die 1971 in Düsseldorf geborene Mithu Sanyal ist promovierte Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin von Sachbüchern (Vulva, Vergewaltigung). Wie sie auf ihrem Blog schreibt:
„Meine Artikel und Feature, Kommentare und Kritiken sind mein Versuch, zu verstehen, warum wir interagieren, wie wir interagieren, und unsere Interaktionsmöglichkeiten zu erweitern: Fragen Sie Dr. Gender. Doch nicht alles ist auf Geschlecht zurückzuführen, also beschäftige ich mich ebenso mit Identität und Politik, Kapitalismus und Alltags-Mithulogie – oh, und natürlich mit Sex(ualitäten).“
Auch die Protagonistin Nivedita Anand ihres Debütromans Identitti beschäftigt sich mit diesen Themen. Sie tut das als Studentin im Zweig Intercultural Studies/Postkoloniale Theorie der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und auf ihrem Blog „Identitti“. Wie ihre Autorin hat die Mittzwanzigerin eine polnische Mutter (Birgit) und einen indischen Vater (Jagdish) und lebt in Düsseldorf-Oberbilk. Rassismuserfahrungen hat Nivedita bisher nur am Rande gemacht, denn Inder:in in Deutschland zu sein ist „der Joker unter den Migrationskarten“ – was ihr ihre Schwarze Freundin Oluchi immer wieder vorhält.
Identität
Nivedita leidet eher unter ihrer so empfundenen nicht eindeutigen Identität. Auf ihrem Blog ist sie unterwegs als „mixed race wonder woman“. Aber insgeheim leidet sie darunter, im Dazwischen gefangen zu sein. Wieviel einfacher hat es doch ihre selbstsichere Cousine Priti, die „Vollinderin“ ist und in ihrer Heimatstadt Birmingham eine richtige indische Community erleben durfte. Im Hintergrund immer das Urteil:
„Du bist nicht echt, das wie ein Stempel auf Niveditas Leben gedrückt wurde.“
Aber nicht nur in Bezug auf „race“ ist Nivedita unsicher und bisweilen geradezu naiv, auch ihre Beziehung zu Simon ist toxisch. Vordergründig so emanzipiert, lässt sie sich dessen unmögliche Launen widerspruchslos gefallen. Auch die Eltern taugen trotz ihrer Liberalität nur sehr bedingt als Rollenvorbilder. Besonders der angepasste, so gar nicht wütende Vater nervt seine antirassistisch und feministisch engagierte Tochter.
Geeigneter erscheint ihr da Kali, die indische Göttin des Todes und der Zerstörung, aber auch der Erneuerung. Ihre blauhäutige, wilde Gestalt ziert das Cover von Identitti. Einer ihrer vier Arme hält erhoben einen blutigen Säbel, die andere einen abgeschlagenen Männerkopf. Abgetrennte Arme bilden ihren Rock, sie tanzt auf einem leblos am Boden liegenden Männerkörper. Anarchisch ist diese Kali, grausam, wild, aber in der indischen Tradition eine für uns mitteleuropäische Leser verblüffend positiv besetzte Gottheit. Stark, energiegeladen, eigensinnig oder alles andere als eine unterwürfige Frau – so erscheint sie auch Nivedita als imaginäre Freundin, die ihr Gesprächspartnerin, Ratgeberin und Halt ist.
Saraswati
Ein anderes Vorbild für Nivedita ist ihre Professorin Saraswati, die sie fast wie die Namensgeberin, eine indische Göttin der Weisheit und Gelehrsamkeit, anbetet. Welch ein Schock ist es, als zu Beginn des Romans enthüllt wird, dass diese Saraswati, internationale Koryphäe für postkoloniale Diskurse, für „race“ und Identitätspolitik und in dieser Funktion auf allen Bühnen der Welt zuhause, eigentlich Sarah Vera Thielmann heißt und nicht wie behauptet eine POC, sondern urdeutsch ist.
„Was hier passiert, erschüttert nicht nur mein Verhältnis zu Saraswati, es erschüttert meine Verhältnis zu mir; meinen Zugang zu Wissen und Geschichten und Verstehen: In einer Welt, in der Saraswati weiß ist, verstehe ich mich selbst nicht mehr.“
So Nivedita auf ihrem Blog.
Ein eindeutiger Fall von kultureller Aneignung, ein Tabubruch!? Ein internationaler Shitstorm, vor allem in den Sozialen Medien, bricht los. Sehr schön ist, wie Mithu Sanyal hier in Identitti die Mechanismen der öffentlichen Empörung, wie sie in jüngerer Zeit fast automatisiert losbrechen, darstellt. Sie hat etliche Freund:innen und Prominente, die in diesen Medien unterwegs sind, um Stellungnahmen zum von ihr konstruierten Fall gebeten, der sich aber an den realen Fall der Kulturwissenschaftlerin Rachel Dolezal, die 2015 in den USA „geoutet“ wurde, anlehnt. So entstanden „authentische“ Tweets und Beiträge von Leuten wie Hilal Sezgin, Ijoma Mangold, Lars Weisbrod, Fatma Aydemir und vielen anderen.
Diskurs
Einen wirklichen Plot gibt es nun nicht mehr. Auch die eigene Community wendet sich vehement gegen Saraswati, spricht von Verrat, fordert, das einstige Idol zu canceln. Was besonders schmerzt. Die politische Gegenseite jubiliert. Nivedita, die der Shitstorm auch erwischt, da sie trotz ihrer persönlichen Enttäuschung versucht, Saraswati zu verteidigen, verschanzt sich mit ihrer Professorin und deren Lebensgefährtin in der Wohnung in Oberbilk. Später kommt auch noch Cousine Priti hinzu. Mittelpunkt des Romans ist nun die intellektuelle Auseinandersetzung zwischen den Beteiligten. Nivedita versucht, zu verstehen, warum Saraswati sich diese fremde Identität angeeignet hat. Die Dialoge werden etwas theorielastig, was Mithu Sanyal aber durch eine ordentliche Portion Humor und Selbstironie aufwiegt. Hier spürt man eine Nähe zur britischen Comedy, auf die sich die Autorin ausdrücklich beruft, denn genau besehen, sei doch nichts so absurd wie Rassismus.
„Identität bestimmt nicht die Dinge, die wir tun, sehr wohl aber die Dinge, die andere Menschen uns antun.“
Fluidität der Identitäten
Saraswati beruft sich auf die Fluidität von Identitäten. Wenn eine solche für Gender besteht, warum dann nicht auch für Race. „Transrace“ – müsste nicht auch hier wie beim Geschlecht Wahlfreiheit bestehen? Sind wir nicht in jeder Beziehung widersprüchliche Wesen? Und darf man nicht gerade als Weiße:r, was mittlerweile fast synonym für Rassist:in und Kolonisator:in steht, eine Wahl gegen diese Ausgrenzungen treffen dürfen?
„Weiße sind nicht der Feind, sie besetzen nur eine andere Position in dem Netz von Macht und Entmachtung, das wir Rassismus nennen. Auch sie können nicht einfach menschlich sein, wenn sie weiß sein müssen.“
Mithu Sanyal gibt mit Identitti keine eindeutigen Antworten auf die angerissenen Fragen. Vielleicht gibt es die auch gar nicht. Für Saraswatis Utopie benötigt man vielleicht zunächst andere gesellschaftliche Strukturen.
„Race ist ein Konstrukt, aber mit realen Auswirkungen.“
Diese realen Auswirkungen bekommen Saraswati und Nivedita im Roman, und bekam Mithu Sanyal im wirklichen Leben zu spüren. Während des Schreibprozesses geschah der rassistische Anschlag von Hanau, der neun Menschen das Leben kostete. Er fand Niederschlag im Buch.
Trotz der Diskurshaftigkeit, trotz der vielen angesprochenen Theorien, des dazu passenden Vokabulars, ist Identitti leicht zu lesen, unterhaltsam, erfrischend und ganz schön schräg. Es ist ein sehr zeitgemäßes Buch. Ein bisschen Pop, viel Internet, literarische Bezüge von Baldwin bis Zadie Smith und viele kluge Gedanken, die aber sehr spielerisch und ausgelassen eingearbeitet werden. Vielleicht bleiben die Figuren ein wenig flach. Aber man taucht klüger aus dem Buch auf und es macht einfach Spaß. Meine Daumen für die Shortlist sind gedrückt!
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Mithu Sanyal – Identitti
Hanser Verlag Februar 2021, Fester Einband, 432 Seiten, 22,00 €
Ein Gedanke zu „Mithu Sanyal – Identitti“