Seit fünfzig Jahren schreibt Gert Loschütz Hörspiele, Theaterstücke, Erzählungen und immer wieder auch Romane. Mit zwei davon stand er auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis. Dunkle Gesellschaft. Roman in zehn Regennächten schaffte es 2005 auf die Shortlist, Ein schönes Paar 2018 immerhin auf die Longlist. Auch 2021 hat es Gert Loschütz mit Besichtigung eines Unglücks unter die zwanzig Titel geschafft, die ins Rennen um den „Roman des Jahres“ gingen.
Wie in Ein schönes Paar nimmt der Autor eine Episode aus der eigenen Familiengeschichte, um sie fiktionalisiert zu einem dichten, packenden Roman zu verarbeiten. Der Autor Thomas Vandersee dient ihm dabei als Ich-Erzähler und Alter Ego. Wie Loschütz kurz nach dem Krieg in Genthin, einer Kleinstadt zwischen Magdeburg und Berlin geboren, erhält dieser Mitte der neunziger Jahre eine Leserzuschrift. Ein Herr Weidenkopf, der ebenfalls aus Genthin stammt und den der Name Vandersee an eine ehemalige Mitschülerin erinnert, macht ihn darin auf ein tragisches Unglück aufmerksam, das trotz seiner verheerenden Ausmaße kaum Platz im kollektiven Gedächtnis gefunden hat.
„Zwei Tage vor Heiligabend, zwölf Grad minus, 0 Uhr 53. die Stadt, die Dörfer in tiefem Schlaf. Kein Mond, keine Sterne, der Himmel bedeckt, ein wenig Schnee.
Dann der harte metallische Schlag, Eisen auf Eisen, das Kreischen der sich ineinander bohrenden Wagen, das Knirschen der sich stauchenden Bleche, das Krachen und Splittern zerberstenden Holzes. Alles in eins. Mit einer solchen Gewalt, dass es im Umkreis von zehn Kilometern zu hören ist, in der Stadt, in den umliegenden Dörfern, Vorwerken, Gehöften. Die Leute schlafen und schrecken aus dem Schlaf hoch. Dann wieder Stille. Noch tiefere Stille.“
22. Dezember 1939
In einer eiskalten Dezembernacht 1939 kollidierten im Bahnhof von Genthin zwei wegen der bevorstehenden Weihnachtstage und der aus militärischen Gründen beschnittenen Fahrpläne restlos überfüllte D-Züge. Fast 200 Menschen starben, viele wurden verletzt. Es ist damit das bis heute schwerste Eisenbahnunglück in Deutschland. Die genauen Umstände kamen, auch wegen des seit 1. September 1939 herrschenden Kriegszustandes, in dem sich das nationalsozialistische Deutschland befand, nie restlos ans Licht. Thomas Vandersee, dessen Mutter Lisa zur Zeit des Unfalls in Genthin als Lehrmädchen im Kaufhaus Magnus arbeitete und mit ihm 1957 mit einem ähnlichen Zug nach Berlin übersiedelte, interessiert sich durch den persönlichen Bezug sofort für den Fall und entdeckt beim genaueren Studium der Akten interessante Einzelheiten.
Da ist einmal der Ablauf des Zugunglücks selbst, den Vandersee akribisch recherchiert und dessen Schilderung den ersten von drei langen Romanabschnitten bildet. Beide Züge verließen im Abstand von einer halben Stunde pünktlich Berlin. Dieser Abstand verringerte sich durch starken Andrang, kriegsbedingt verdunkelte Bahnhöfe und einen langsam vorausfahrenden Militärzug. Kurz vor Genthin, wo der D10 halten musste, überfuhr der folgende D180 mehrere Haltesignale und rast mit voller Geschwindigkeit in den stehenden Zug. Die verkeilten Wagen boten ein Bild des Schreckens, die Bergung der Verletzten und Toten wurden durch Temperaturen nahe minus 20 Grad erschwert.
Das Unglück
Die genaue Schilderung des Unfallhergangs, der beteiligten Personen, der Aufklärung und der späteren Recherchen Vandersees durch Gert Loschütz sind das packendste, spannendste Kapitel von Besichtigung eines Unglücks. Akribisch werden Fakten und Mutmaßungen zusammengetragen, Archive aufgesucht, Zeugen befragt, Polizeiakten durchgearbeitet. Die Namen der Beteiligten sind abgeändert, die Tatsachen stimmen. Es bleiben Ungereimtheiten. Letztlich entschieden vielleicht vier Sekunden über das Schicksal der vielen Mitreisenden. Tastend arbeiten wir uns als Leser:innen zusammen mit dem Erzähler vor. Mehr als einmal halten wir den Atem an.
Das zweite große Kapitel widmet sich zwei Passagieren, deren Namen Vandersee bei der Recherche ins Auge stechen. Zwischen all den eindeutig deutschen Fahrgästen taucht auf der Liste der Todesopfer ein Giuseppe Buonomo aus Neapel auf. Was trieb diesen Italiener mitten im Krieg in einen Zug von Berlin nach Köln? Und was hat es mit einer weiteren Passagierin, einer Carla Buonomo, wohnhaft in Düsseldorf, auf sich, bei der sich später herausstellt, dass sie eigentlich Carla Finck hieß, Halbjüdin war und in Neuss einen jüdischen Verlobten namens Richard Kuipers besaß? Unglück – Zufall. Im Französischen beides „accident“. Vandersee und mit ihm der Autor Loschütz lotet Zusammenhänge aus, das Gewicht von getroffenen Entscheidungen und letztlich von entscheidenden vier Sekunden.
Die Mutter
Ein drittes längeres Kapitel widmet sich der Mutter Lisa Vandersee, die damals – vermutlich – Kontakt mit Carla Finck hatte und deren Bekanntschaft mit Weidenkopf die Recherchen ihres Sohnes erst ins Rollen brachte. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Nachkriegszeit in Berlin, die Thomas selbst erlebt hat. Lisa, die sich und ihren Sohn zunächst allein durchbrachte, nie die Identität seines Vaters preisgab und später eine Vernunftehe mit einem gutsituierten, aber ungeliebten Mann einging, trauerte ein Leben lang einem talentierten Geiger nach, „der Begabte“ genannt. Die Schwermut der Mutter, die Trauer über ein verpasstes Glück, ein anderes Leben spürte bereits der kleine Thomas. Den Hintergründen – und der Identität seines leiblichen Vaters – nähert er sich aber erst im Verlauf seiner „Eisenbahn-Recherchen“ an. Er ist ein melancholischer Erzähler.
„(…)die Erkenntnis, dass vor meiner Geburt Millionen von Jahren vergangen sind und nach meinem Tod wieder Millionen von Jahren vergehen werden, so dass die Annahme, das Leben sei der Normalfall, als blanker Unsinn dasteht. Umgekehrt ist es: Nicht das Da-, sondern das Nichtsein ist die Regel…ein strahlender Sonntagvormittag, auf dem Fluss die Ausflugsschiffe, auf den Bänken die buntgekleideten Passagiere, ihr winken, und inmitten der vielen, mir entgegenkommenden Leute die Gewissheit, von ihnen getrennt zu sein.“
Gert Loschütz verknüpft diese drei Ebenen in Besichtigung eines Unglücks virtuos, ergänzt sie durch zwei kurze Epiloge. Das liest sich spannend, elegant, leise und eindringlich. 2001 erschien bereits ein Hörspiel gleichen Namens zu dem Stoff. Es wäre großartig, wenn es vielleicht anlässlich der Veröffentlichung des Romans und seiner Platzierung auf der Longlist noch mal nachzuhören wäre.
Weitere Besprechungen könnt ihr beim Leseschatz und morehotlist.com nachlesen
Beitragsbild: Whatever the weather by Phil dolby (CC BY 2.0) via Flickr
_____________________________________________________
*Werbung*
.
Gert Loschütz – Besichtigung eines Unglücks
Schöffling Juli 2021, 336 Seiten. Gebunden. Lesebändchen, € 24,00
Nach dem Lesen von Florian Illies „Liebe in Zeiten des Hasses“ habe ich eigentlich keine Lust mehr auf die Kollagearbeit und diese sogenannten Dokumentar- und Rechercheromane. Aber die Rezension und die Zitate haben mich wieder neugierig werden lassen. Vielen Dank dafür!
Sehr gerne! Würde mich freuen, wenn der Loschütz eine Chance bekäme. Ich fand gerade die Recherchen zum Zugunglück sehr spannend.
Das Buch werde ich mir definitiv auch noch zulegen. Danke für Deine Besprechung!
Moin und vielen Dank für die Besprechung und der sehr netten Verlinkung.
Herzliche und erlesene Grüße, Hauke
Wie immer gern!