Dilek Güngör – Vater und ich

Vater und Tochter – eine ganz besondere Beziehung. Meist ist das Verhältnis nicht so angespannt, so geprägt von Identifikation einerseits und Konkurrenz bzw. Abgrenzung andererseits wie zwischen Mutter und Tochter oder Vater und Sohn. Oft ist es auch weniger eng und vertraut. Vielleicht deshalb gibt es im Vergleich auch weniger literarische Auseinandersetzungen damit. Barbara Honigmann hat mit Georg eine geschaffen, Annie Ernaux  mit Der Platz, Natascha Wodin mit Irgendwo in diesem Dunkel. Und nun stehen zwei kurze Romane über Väter auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2021. Monika Helfers Vati und Dilek Güngör mit Vater und ich.

Romane, obwohl beide Autorinnen keinen Zweifel daran lassen, dass sie von ihrer eigenen Familie erzählen. Während die bald 74jährige Helfer sich in Die Bagage und Vati an eine weit zurückliegende Zeit und einen verstorbenen Vater erinnert, schreibt Dilek Güngör (Jahrgang 1972) seit vielen Jahren in verschiedenen Zeitungen Kolumnen über ihre türkische Familie und hat nun ihren dritten Roman ihrer Beziehung zum Vater gewidmet.

Die Familie

Geboren wurde sie in Schwäbisch Gmünd. Die Eltern waren den ärmlichen Verhältnissen in ihrem Heimatland entflohen, um in Deutschland zu arbeiten. Wie viele damalige „Gastarbeiter“ hatten sie eine Rückkehr in die Türkei geplant. Es kam anders, man richtete sich ein, die Tochter wurde hier geboren und ihr gelang der Bildungsaufstieg. Gymnasium, Studium, Tätigkeit als Journalistin. Türkisch wurde bald zu einer Sprache, die, wenn überhaupt, nur noch zuhause gesprochen wurde, derer sich das Mädchen, im Buch Ipek genannt, sogar ein wenig schämte. Erst an der Universität belegte sie wieder Türkischkurse. Nur um zu erkennen, dass dieses „Hochtürkisch“ wenig mit dem in der Familie gesprochenen Dialekt gemein hat.

Dieses Verlieren des Türkischen als Muttersprache mag ein Grund für die im Verlauf des Älterwerdens wachsende Fremdheit zwischen Tochter und dem sehr geliebtem Vater gewesen sein. Als Kind stand Ipek ihm sehr nahe, man lachte viel, war auch körperlich eng. Ipek wurde zur Frau und diese Nähe begann zunehmend zu verschwinden. Eine Entwicklung, die aber sicher typisch für viele Vater-Tochter-Beziehungen ist, ganz unabhängig vom Migrationshintergrund. Sprachlosigkeit macht sich breit.

Literarisches Zwiegespräch mit dem Vater

Erzählt wird von Ipek, die sich in ein literarisches Zwiegespräch mit dem Vater begibt. Ausgangspunkt sind einige Tage, die sie während der Abwesenheit der Mutter, die mit Freundinnen im Wellnessurlaub ist und sich nur sporadisch meldet, im Elternhaus verbringt. So ungewohnt eng und auf sich selbst geworfen entwickelt sich eine Art Kammerspiel zwischen den Vater und Tochter. Ipek versucht immer wieder auch aus der Vergangenheit zu ergründen, woran es liegt, dass es zu keinem echten Gespräch kommt, dass sie nur beispielsweise im gemeinsamen Kochen eine Art gefühlte Nähe entwickeln können. Umso verwunderlicher, da Ipek als Journalistin sehr häufig Interviews führt, die Sprache, das Sprechen und Zuhören ihr Beruf ist.

Dilek Güngör erzählt Vater und ich völlig schnörkellos, trifft immer den richtigen Ton, besonders auch in den wunderbaren Dialogen. Ihr ist ein ganz zartes, ehrliches, empathisches Buch gelungen. Die knapp 100 Seiten lesen sich schnell, klingen aber noch lange nach. Völlig zurecht stand es in diesem Jahr auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Ich hätte ihm einen Platz auch auf der Shortlist gegönnt.

 

Eine weitere Besprechung bei Haukes Leseschatz

Beitragsbild von Evgeni Tcherkasski auf Pixabay

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VATER UND ICH Dilek Güngör.

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Dilek Güngör – Vater und ich
Verbrecher Verlag Juli 2021, Hardcover, 104 Seiten, 19,00 €

5 Gedanken zu „Dilek Güngör – Vater und ich

  1. Dieser Text hätte mE angesichts des sowieso schon durchwachsenen Feldes in diesem Jahr definitiv auf die Shortlist gehört. Einer der am klügsten gearbeiteten Texte, allerdings eher „still“ & kleiner Verlag. Ich habe das Gefühl, sowas hat es beim dt. Buchpreis eher schwer.

    1. Ich hatte auch schon gedacht, dass das Buch zu „schmal“ ist, um weiter zu kommen. Weiterer Verdacht war, dass vllt. „nicht noch ein Buch mit Migrationshintergrund“ auf die sehr austarierte Liste sollte. Schade ist es so oder so.

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