Longlistlesen für den Deutschen Buchpreis war ein Schwerpunkt für meine Lektüre im September 2021. Bis zur Bekanntgabe der Shortlist am 21. September wollte ich gern 10 der Nominierten, also 50% gelesen haben. Ich bin nur knapp gescheitert (9/10), vor allem aber, weil ich bereits vier der Titel gelesen hatte: Vati von Monika Helfer, Die nicht sterben von Dana Grigorcea, Der Himmel vor hundert Jahren von Yulia Marfutova und Drei Kameradinnen von Shida Bazyar. Besonders das Fehlen von letzterem finde nicht nur ich sehr, sehr bedauerlich und auch unverständlich. Aber gut. Juryentscheidungen sind unvorhersehbar. Sasha Maria Salzmanns Im Menschen muss alles herrlich sein habe ich vor der Shortlist nicht geschafft und das Buch hat es ja leider trotz großen Lobes von Seiten der Kritik auch nicht weiter geschafft. Die Lektüre wird nachgeholt.
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Diese Jahr darf ich als Buchpreisbloggerin ein Patenbuch von der Longlist zum Deutschen Buchpreis begleiten.
Identitti von Mithu Sanyal hat es eine Runde weiter geschafft.
Die Protagonistin Nivedita Anand dieses Debütromans beschäftigt sich mit ähnlichen Themen wie ihre Autorin, die promovierte Kulturwissenschaftlerin ist: race, gender, sex und eben Identität. Nivedita tut das als Studentin im Zweig Intercultural Studies/Postkoloniale Theorie der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und auf ihrem Blog „Identitti“. Ein wahrer Schock ist es für Sie, als sich herausstellt, dass ihre verehrte Professorin Saraswati eigentlich Sarah Vera Thielmann heißt und nicht wie behauptet eine POC, sondern urdeutsch ist. Ein wahrer Shitstorm vor allem in den Sozialen Medien bricht über Saraswati, aber auch Nivedita herein, obwohl diese doch selbst sehr an dieser Offenbarung zu knabbern hat. Mithu Sanyal dekliniert an dieser rasanten, frechen Geschichte wichtige, aktuell stark diskutierte Themen wie Race, kulturelle Aneignung, Gender und Wokeness auf höchst unterhaltsame Weise durch. Ein Buch, das man sicher klüger wieder zuschlägt.
Vater und ich – mit diesem wunderbaren, zarten, ehrlichen, schmalen Roman stand Dilek Güngor dieses Jahr auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Ich verstehe überhaupt nicht warum es diese kleine Perle nicht auf die Shortlist geschafft hat. Bei mir zumindest steht es ganz oben bei den diesjährigen Lesehighlights.
Ich bin ein paar Jahre älter als Dilek, habe keinerlei sogenannten Migrationshintergrund, mein Vater ist im vergangenen Jahr verstorben. Aber was sie über diese ganz besondere Beziehung zwischen Ipek und ihrem Vater schreibt, ist meinen Erinnerungen und Gefühlen so nah, ihre Dialoge sind so treffend, ihre Sprache so schnörkellos wie schön – ein ganz wunderbares Buch.
ist auch ein Buch von der Longlist, dem ich das Weiterkommen sehr gewünscht habe. Ausgehend von der Rahmenerzählung im Jahr 1962, in der die Familie des niedersächsischen Großbauern Wilhelm Leeb einen tragischen Verlust zu beklagen hat, wird in zahreichen Rückblenden unchronologisch und episodenhaft zurückgeblendet. Vor allem in die Zeit des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegseit, aber auch ins 19. Jahrhundert und sogar bis ins Jahr 1755.
Schlüsselerlebnisse, eigenwillige Charaktere, und eine schwere Mitgift, die von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Angelehnt an die eigene Familiengeschichte hat Henning Ahrens einen spannenden, atmosphärischen, mitreißenden Roman geschrieben, dem ich viele Leser: innen wünsche. Auch wenn er jetzt nicht mehr im Rennen um den Deutschen Buchpreis steht.
Gert Loschütz – Besichtigung eines Unglücks
Und noch ein Longlistbuch: Gert Loschütz´ Roman über das schwerste Zugunglück der deutschen Geschichte, bei dem in einer eisigen Dezembernacht 1939 im Bahnhof von Genthin fast 200 Menschen ums Leben kamen.
Akribisch genau recherchiert, spannend und sehr erhellend, verknüpft der Autor das Unglück mit Zeit- und ganz persönlicher Geschichte. Kleinen Punktabzug gibt es von mir für die ziemlich überflüssige Rahmenerzählung. Dennoch einer der besten deutschen Romane des Jahres.
Der Autor hat dafür Tagen den Wilhelm Raabe – Preis zugesprochen bekommen.
Peter Karoshi – Zu den Elefanten
Ein letztes Buch von der Longlist für diesen Monat. Und ein Buch, mit dem ich sehr gefremdelt habe. Ich wurde mit der ins surrealistische kippende Geschichte über eine Vater-Sohn-Wanderung nicht warm. Angelehnt an die Geschichte des Elefanten Soliman, der im Winter 1551/52 als Geschenk für den späteren Kaiser Maximilian II. auf die Reise von Valladoid in Spanien nach Wien geschickt wurde und von Genua über die Alpen nach Wien zog, ist die Wanderung in umgekehrter Richtung von Österreich nach Genua geplant. Das beginnt noch ganz interessant, allerdings ist der Vater und Ich-Erzähler von Beginn an äußerst unsympathisch. Spätestens als der ungefähr neunjährige Sohn beim Zelten in den Bergen „abhanden“ kommt, was den Vater aber nicht weiter zu beunruhigen scheint, wird das Erzählte phantastisch. Das steigert sich, bis der Vater seinen Sohn am Ende der Wanderung als Erwachsenen mit Vollbart wieder trifft. Der Vater befindet sich offensichtlich in einer existentiellen Krise, was mir aber sonst mit diesem auch sprachlich sehr unauffälligen Text mitgeteilt werden soll, erschloss sich mir nicht. Die Platzierung auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis – für mich ein Rätsel.
Ein grausiges Verbrechen an einem hochbetagten Unternehmerehepaar in der eigentlich eher provinziellen Terra alta, südwestlich von Barcelona hält den dorthin versetzten Melchor Márin in Atem. Die Ermittlungen kommen nicht recht voran, werden irgendwann gar eingestellt. Márin, dessen Vorgeschichte wir in Rückblenden vorgestellt bekommen bleibt auch aus persönlichen Gründen am Ball.
Es ist ein wenig viel, was der Autor in seine Krimihandlung hineinverwebt: Spanischer Bürgerkrieg, die kriminelle Vergangenheit seines Ermittlers, die spanisch-katalanischen Spannungen, islamistischer Terror. Überraschenderweise geht das aber lange Zeit gut. Der Roman liest sich spannend und interessant. Ein bisschen weniger Machismo wäre gut gewesen, ein bisschen weniger Liebäugelei mit dem Rache- und Selbstjustiz-Motiv, weniger grausige Details zu Anfang und ein paar Rückblenden weniger. Dennoch eine Krimiempfehlung!
Yaa Gyasi – Ein erhabenes Königreich
Yaa Gyasis Debüt Heimkehren war einfach großartig. In Ein erhabenes Königreich geht es um eine junge Frau, die zwischen der Wissenschaft (Tierversuche an Mäusen spielen eine große Rolle) und Evangelikalismus den Drogentod ihres Bruders verarbeiten muss. Das Ringen mit der Religion, mit der sie durch ihre tiefgläubige Mutter großgeworden ist, nimmt viel Raum ein. Ein tiefes Gefühl der Schuld und ein Fehlen von Geborgenheit treibt Gifty um. Dazu kommt noch ihre Sorge um die depressive Mutter. Rassismus, die Opioidkrise in den USA, Klassismus – schwere Themen, die Yaa Gyasi in ihren neuen Roman packt. Sie ist eine so gute Erzählerin, dass ihr das gelingt und man das Buch mit Gewinn liest.
„Vater und ich“ hat bei mir von den bisherigen Longlistlektüren den stärksten Eindruck hinterlassen. Allerdings steht noch einiges zum Schmökern im Regal!
Vater und ich war auch für mich eine der Favoritinnen.