2019 bezauberte Nadine Schneider mit ihrem Roman Drei Kilometer nicht nur die Jury des Bloggerpreises für Literatur Das Debüt, sondern sie erhielt auch den Hermann Hesse Förderpreis, den Literaturpreis der Stadt Fulda und den Vera-Doppelfeld-Förderpreis. In Wohin ich immer gehe, das diesen Sommer erschien, zeigt Nadine Schneider, dass ihr auch der oft so schwere zweite Roman ganz wunderbar gelungen ist.
Beide Bücher gleichen sich und sind doch verschieden. Rumänien, das Banat, aus dem die Eltern der 1990 in Nürnberg geborenen Autorin nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Deutschland emigriert sind, ist auch im neuen Roman Zentrum des Schreibens. Geht es allerdings in Drei Kilometer um eine junge Frau, die kurz vor dem Ende der Ceaușescu-Diktatur zwischen zwei Männern hin und her gerissen ist, zwischen dem Bleiben in der Heimat und der Familie und dem Fortgehen, hat im neuen Roman die Flucht bereits stattgefunden. Und diesmal wählt Nadine Schneider keine Ich-Erzählerin, sondern die personale Perspektive eines jungen Mannes, Johannes.
Grenzregion
Der Ort der Handlung ist aber der gleiche: die ländliche rumänische Grenzregion zu Jugoslawien. 1987 durchschwimmt hier Johannes die Donau am Eisernen Tor, wo der Fluss sich auf eine Breite von 200 Meter verengt. Patrouillenboote, Strömungen, steile Ufer gefährden das Unternehmen. Besonders belastet ihn aber die Tatsache, dass die Flucht eigentlich mit seinem Jugendfreund David geplant war. Kurz vorher verschwand dieser aber unerklärlicherweise.
Das Buch beginnt mit dem wiederkehrenden Alptraum, bei dem Johannes auf seiner Flucht im Wasser erschossen wird. Wir begegnen ihm allerdings erst im Jahr 1993. Nach seiner Flucht hat sich Johannes als Hörgeräteakkustiker ausbilden lassen, ein in der Literatur eher exotischer Beruf. Er ist aber symbolträchtig, denn nicht nur der Vater und die Großmutter litten unter früher Schwerhörigkeit, auch Johannes fühlt sich dadurch bedroht. Das Rauschen der Donau in den Ohren, der Schmerz, den er im Ohr hatte, als der Vater ihm recht unsanft das Schwimmen „lehrte“.
Herkunft
Überhaupt der Vater. Er ist Anlass für zahlreiche Rückblenden in die Kindheit und Jugend und für die erste Heimreise nach der Flucht. Denn der Vater ist gestorben, teilt ihm die Mutter in einem knappen Brief mit. Johannes hat nach seiner Flucht alle Brücken hinter sich abgebrochen. Der gewalttätige, nie zufrieden zu stellende Vater, die eigene verheimlichte Homosexualität, die verleugnete Liebe zu seinem Kindheitsfreund David und ein schrecklicher Verdacht begleiteten ihn nach Deutschland. Ganz im Westen angekommen scheint Johannes immer noch nicht zu sein. Auch wenn seine Arbeit und vor allem die Freundschaft zu seiner Arbeitskollegin Giulia ihn zeitweise glücklich zu machen scheinen, spürt man als Leser:in eine große Einsamkeit, eine Melancholie, eine gewisse Gebrochenheit.
„In Familien lebt man eine Weile, fühlt sich aufgehoben oder nicht. Man erträgt Einiges und überhört Vieles, man steht selten einfach auf und geht. Man sagt kaum einmal, was man wirklich denkt, wundert sich über die Menschen, die man, würde man ihnen als Fremde an einem Ort zufällig begegnen, vermutlich kein zweites Mal sehen wollen würde. Man liebt, obwohl man nicht will, und man verachtet noch leidenschaftlicher. In Familien stirbt man.“
Heimkehr
Und nun die Heimkehr. Nadine Schneider lässt mit Vergnügen die Banater Verwandtschaft in ihrem Dialekt losschwätzen. Es wird aber nie heimelig, denn da ist auch viel Zwietracht, Neid, Misstrauen zu spüren. Die Mutter des Vaters, die „Stadt-Oma“, war immer eine stramme Parteigängerin Ceaușescus. Der Selbstmord des Bruders, nicht der erste und einzige in der Familie, hängt bedrückend über allem. Und dann ist da noch das merkwürdige Verschwinden Davids. Nadine Schneider lässt Leerstellen in ihrem eher schmalen Roman, erzählt erfreulicherweise nicht alles aus.
„Es gab nichts mehr zu tun hier. Es war nicht nur der Vater gestorben, irgendwie hatte auch alles andere aufgehört, zu leben, vor allen ein Gefühl, von dem Johannes gedacht hatte, er müsse es noch haben.“
Nadine Schneider gelingt in Wohin ich immer gehe wieder eine leicht schwebende Atmosphäre, die trotz aller Schwere der angerissenen Themen nicht erdrückt. Die Sprache ist so schön wie in ihrem Erstling, die Erzählung ruhig fließend, die Stimmung melancholisch. Eine ganz große Leseempfehlung!
Eine weitere Besprechung gibt es auf Literatur leuchtet
Beitragsbild: Donau am Eisernen Tor, by Cornelius Bechtler, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons
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Nadine Schneider – Wohin ich immer gehe
Jung und Jung Juli 2021, 260 Seiten, gebunden, € 22,-