Zwischen Juli 1979 und Mai 1981 verschwanden in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia zahlreiche, vorwiegend afroamerikanische Kinder und Jugendliche. Die überwiegende Mehrzahl waren Jungen im Alter von 8 bis 15. Die amerikanische Autorin Tayari Jones lebte zu der Zeit im gleichen Alter in Atlanta und blickt in ihrem Debütroman Das Jahr in dem wir verschwanden auf diese Ereignisse zurück. Nach dem großen Erfolg ihrer Romane In guten wie in schlechten Tagen und Das zweitbeste Leben veröffentlicht der Arche Verlag nun diesen Erstling in der Übersetzung von Britt Somann-Jung.
Die Mordserie von Atlanta, der insgesamt dreißig Opfer zugeordnet wurden, hielt die afroamerikanische Bevölkerung Georgias in Atem. Auch als der Schwarze Wayne Bertram Williams für zwei der Morde an bereits erwachsenen Männern verurteilt wurde und ihm daraufhin mit sehr dürftigen „Beweismitteln“ sämtliche Tötungen angelastet wurden (es erfolgte allerdings dafür nie eine Anklage oder Verurteilung), blieben starke Zweifel an den Ermittlungen und der tatsächlichen Schuld von Williams. Und liest man Berichte über diese Mordserie, gruselt es einen tatsächlich vor der damit verbundenen Polizeiarbeit. Unterschiedliche Tötungsarten, zwei kleine Mädchen, die gar nicht ins Opferschema passten, Morde, die auch nach der Verhaftung Williams nach ähnlichem Muster verübt wurden – all das lässt doch erhebliche Zweifel aufkommen. Außerdem wurden Hinweise, dass es sich um einen Weißen Täter handeln könnte, völlig ignoriert. Williams betonte stets seine Unschuld, 2019 wurden die Ermittlungen in seinem Fall wieder aufgenommen.
Kindersicht
Tayari Jones erzählt von diesen Vorgängen in Das Jahr in dem wir verschwanden in drei Kapiteln aus der Sicht der Kinder. Jeder Abschnitt ist einem Kind gewidmet und in einer ganz bestimmten Perspektive verfasst.
Es beginnt mit LaTasha Baxter, einer Fünftklässlerin, die gerade die Turbulenzen der Vorpubertät durchlebt. Ihre Geschichte ist in der 3. Person geschrieben. Spannungen mit den Eltern und der kleinen Schwester, Jungs, Konkurrenz mit den anderen Mädchen, das eigene Aussehen, die Frage, wie komme ich bei den anderen an, wie gehe ich mit meinem sich verändernden Körper um, beschäftigen sie wie alle Heranwachsenden in diesem Alter. In diese Zeit der Unsicherheit platzen die Morde. Die Eltern fürchten sich, die Kinder haben Angst, dürfen nicht mehr allein auf die Straße. Gut, dass Tasha in einer behüteten, liebevollen Familie aufwächst. Ihr Leben geht trotz der fürchterlichen Ereignisse um sie herum weiter, ihre Kindersorgen bleiben die gleichen. Ihr Leben wird nur kurz stärker erschüttert, als ihr Klassenkamerad Jashante verschwindet.
Verschiedene Perspektiven
Ganz anders ergeht es dem gleichaltrigen Rodney Green. Sein Vater sorgt zwar für die Familie, geht aber besonders mit Rodney unerbittlich streng um. Einmal züchtigt er seinen Sohn vor der gesamten Klasse wegen schlechter Noten. Rodney fühlt sich unglücklich, allein gelassen. Seine Geschichte wird in der Du-Perspektive erzählt.
Das dritte Kapitel gehört der Ich-Erzählerin Octavia Fuller. Sie kommt aus prekären Familienverhältnissen, wächst ohne Vater auf, die Mutter arbeitet rund um die Uhr, hat kaum Zeit. Von den Schulkameraden wird sie wegen ihrer dunklen Hautfarbe gehänselt, „Watussi“ genannt, gemieden, verlacht. Dennoch erscheint sie von den Dreien als die Stärkste, Selbstbewussteste.
Die Perspektiven verflechten sich, die drei Kinder kommen jeweils auch in den Geschichten der anderen vor. Auch eine Mitschülerin namens Tayari Jones taucht auf.
Die Autorin schildert nicht nur diese ganz besondere Zeit sehr anschaulich und mitreißend, sondern es gelingt ihr auch sehr gut, die Einsamkeit der Heranwachsenden, ihr Dazwischensein, ihre Unsicherheit zu fassen, den Figuren, auch den unsympathischen, ihre Ambivalenzen zu lassen. Rassismus und Klassismus, auch der in der eigenen Community, schwingen dabei immer mit, überlagern aber nicht die Coming-of-age-Geschichte. Gut, dass auch dieses gelungene Debüt von Tayari Jones nun auf Deutsch erschienen ist.
Auch auf Seitenhinweis wird das Buch besprochen
Beitragsbild: Vermutete Opfer des Atlanta Mörders CNN
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Tayari Jones – Das Jahr, in dem wir verschwanden
Aus dem Englischen von Britt Somann-Jung
Arche Verlag Juli 2021, 269 Seiten, gebunden , € 22,00