Nella Larsen – Seitenwechsel und Wallace Thurman – The blacker the berry

Die afroamerikanische Künstlergruppe „Harlem Renaissance“ der 1920er Jahre erlebt zurzeit ihrerseits eine kleine Renaissance. Gleich mehrere Romane aus ihrem Umfeld sind unlängst wieder/neu auf Deutsch erschienen: Die Hochzeit von „Nesthäkchen“ Dorothy West (1907-1998), erstmals veröffentlicht 1995, bei Hoffmann und Campe; The blacker the berry von Wallace Thurman (1902-1934), erstmals veröffentlicht 1929, bei Ebersbach und Simon; Seitenwechsel von Nella Larsen (1891-1964), ebenfalls aus dem Jahr 1929, bei Dörlemann. Die aktuelle Verfilmung von Letzterem durch Rebecca Hall startet gerade auf Netflix.

Alle drei Romane bestechen durch eine verblüffende Modernität, Aktualität und gesellschaftspolitische Schärfe und lohnen auf jeden Fall die Wiederentdeckung.

Seitenwechsel

Nella Larsen hat mit Seitenwechsel einen Roman geschrieben, der laut Wikipedia an den amerikanischen Hochschulen „inzwischen kanonischen Status erlangt“ hat. Das Thema des „Passing“, so der Originaltitel, ist seitdem in verschiedenen Romanen, etwa in Philipp Roths Der menschliche Makel (2000) oder auch erst unlängst von Brit Bennett (2020)  in Die verschwindende Hälfte behandelt worden. Dieses Konzept, unerkannt (meist als Angehörige:r einer Minderheit) in einer anderen soziologischen oder ethnischen Gruppe zu leben, war (ist?) in den USA ein nicht seltenes Phänomen.

In Seitenwechsel treffen die Kindheitsfreundinnen Irene und Clare nach vielen Jahren in einem Hotelcafé in Chicago aufeinander. Beide sind BPOC, aber sehr hellhäutig und stammen auch aus solchen Familien. Beide dürften sich als „Farbige“ nach den Jim-Crow-Gesetzen gar nicht auf dieser Caféterrasse befinden. Beide betreiben „Passing“, allerdings wie sich herausstellt, auf ganz unterschiedliche Weise.

Irene benutzt es nur hin und wieder in der Öffentlichkeit, wenn es sich gerade so anbietet, zum Beispiel an diesem heißen Tag, um nach einer Shoppingtour im Café ein wenig Kühle zu suchen. Clare hingegen ist ganz in die Welt der Weißen hinübergewechselt. Sie ist mit einem Weißen verheiratet, der nichts von ihrer wahren Identität weiß. Und der, als Irene ihn eher widerwillig bei Clare zuhause kennenlernt, sich als echter Rassist entpuppt.

„Keine Nigger in meiner Familie. Gab nie welche und wird auch nie welche geben.“

Harlem Street Scene Parks, Gordon, 1912-2006, photographer Library of congress
Ein Wagnis

Irene ist schockiert vom Wagnis, das Clare mit dieser Ehe eingeht, zumal sie mit John ein gemeinsames Kind hat (das „glücklicherweise“ ebenfalls hellhäutig zur Welt kam). Sie ist sehr froh, dass sie sehr bald wieder an ihren jetzigen Wohnort New York zurückkehren kann. Sie selbst ist mit einem dunkelhäutigen Mann verheiratet. Eine gemeinsame Freundin hat zwar ebenfalls einen Weißen als Ehemann, der aber von ihrer Herkunft weiß.

Wenig begeistert ist Irene deshalb, als sich Clare in den folgenden Jahren wieder bei ihr meldet, sie in New York besucht und sich an ihr gesellschaftliches Leben angliedert. Clare vermisst schon lange jegliches Zugehörigkeitsgefühl.

„Keiner Menschenseele nahe sein. Nie jemanden haben, mit dem man offen reden kann.“

Irene ist nicht wohl bei den immer größeren Risiken, die Clare einzugehen bereit ist. Dazu kommt ein gewisses Neidgefühl (Clares Mann ist sehr reich) und ein wenig Eifersucht. Schaut nicht ihr Mann begehrlich auf die schöne Freundin?

Geradlinig und schnörkellos führt Nella Larsen die Geschichte auf ihr erwartbares, tragisches Ende zu. Der Roman klingt so modern, ist bei aller zeitgeschichtlichen Gebundenheit doch auch so zeitlos in den genauen psychologischen Beobachtungen, dass es wirklich verwundert, dass Nella Larsen und Seitenwechsel bei uns bisher so unbekannt ist. Das Schicksal der Autorin Nella Larsen ist dabei so typisch für ihre Zeit und ihr Geschlecht. Sowohl ihr erster, autobiografisch geprägter Roman Quicksand als auch Passing waren recht erfolgreich. Ein sich später als haltlos herausstellender Plagiatsvorwurf drängte Nella Larsen aber aus dem Literaturbetrieb. Ein dritter Romanentwurf fand keinen Verleger mehr. 1933 nahm sie ihren alten Beruf als Krankenschwester wieder auf.

The blacker the berry

Wallace Thurman hatte es auf andere Weise schwer, sich nachhaltig auf dem Literaturmarkt zu etablieren. Sein sehr früher Tbc-Tod war sicher das größte Hindernis einer breiten Bekanntheit. Nur auf drei Veröffentlichungen brachte es Wallace Thurman zwischen 1929 und 1932, The blacker the berry war sein Debüt.

Darin erzählt er anhand der sehr dunkelhäutigen Emma Lou vom auch in der Schwarzen Community grassierenden Rassismus, von der Hierarchisierung von Hautfarben, von der Verachtung, mit der hellhäutige Afroamerikaner auf ihre dunkleren Mitbürger:innen herabschauten. Aber das ist nicht das einzige herrschende Ressentiment. Die bürgerlichen Familien schauen auf die Arbeiter herab, die Intellektuellen auf die Ungebildeten, die Reichen auf die Armen. Thurman räumt kräftig auf mit der Vorstellung einer solidarischen Schwarzen Community.

Hautfarbe

Emma Lou trifft es besonders hart, denn die eigene (hellhäutige) Familie lehnt sie ab. Ihr Studium in Los Angeles zeigt ihr, dass sie nicht nur als Schwarze Studentin einer diskriminierten Minderheit angehört, sondern dass auch die afroamerikanischen Student:innen sie als Provinzlerin ohne Vermögen ausgrenzen. Schließlich sucht sie im weltoffeneren Harlem ihr Glück. Emma Lou ist aber eine durchaus sehr ambivalent angelegte Figur (ebenso wie und doch ganz anders als Irene und Clare bei Nella Larsen). Immer wieder rutscht sie in toxische Beziehungen und steht ihrem eigenen Glück mehr als einmal selbst im Weg. Die Sympathie der Leser:in liegt nicht unbedingt bei dieser Protagonistin. Die sie umgebenden Menschen, besonders die Kerle, benehmen sich aber noch schlimmer. Und Emma Lou ist gebunden in ihrer Zeit.

Es ist ein ganz anderes Milieu als das bürgerliche, aufstiegsorientierte bei Nella Larsen, in dem sich The blacker the berry bewegt. Hier kreischt der Jazz, hier fließt der Alkohol in geheimen Speakeasys; viel Sex und Partys, wenig Arbeit und Verantwortung. Wallace Thurman, selbst mittendrin in diesem wilden Milieu, schaut mir einer gewissen Ironie auf sein Romanpersonal. Der Leser*in bleibt zu hoffen, dass Emma Lou den Absprung tatsächlich schafft. Die Harlem Renaissance selbst kam mit der Wirtschaftskrise in den Dreißiger Jahren in die Krise. Es war ein selbstbewusster, selbstermächtigender Aufbruchsversuch, der an sein Ende kam. Die offizielle Rassentrennung in den USA endete erst 1964. Karl Bruckmaier liefert ein interessantes Nachwort zum Buch.

 

Beitragsbild Aspiration von Aaron Douglas by daryl_mitchell (CC BY-SA 2.0) via Flickr

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Nella Larsen - Seitenwechsel.

Nella Larsen – Seitenwechsel
Mit einem Nachwort von Fridtjof Küchemann
Aus dem Amerikanischen von Adelheid Dormagen
Dörlemann August 2021, 224 Seiten. Gebunden mit Leseband, € 20.00

 

 

 

Wallace Thurman - The blacker the berry.

Wallace Thurman – The blacker the berry
Aus dem Amerikanischen von Heddi Feilhauer
ebersbach&simon August 2021, 224 Seiten, Halbleinen, € 22.00

 

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