Sven Regener – Glitterschnitter

Zwanzig Jahre nachdem Sven Regener 2001 mit Herr Lehmann sein Berliner Universum rund um die Wiener Straße eröffnet hat, legt er mit Glitterschnitter nun bereits den sechsten Roman mit Frank Lehmann, Karl Schmidt, Kneipenbesitzer Erwin Kächele, Hausbe-setzer/sitzer P.Immel und Aktionskünstler H.R.Ledigt vor. Wieder setzt er dem Berlin der 1980er Jahre, der Stadt in der „alles möglich war“, den Träumern, Verweigerern und Lebenskünstlern, die es bevölkerten, ein so witziges wie nachdenkliches Denkmal.

Glitterschnitter ist vielleicht nicht der ideale Einstieg in diese chaotische, liebenswerte Welt, ein bisschen Vorwissen ist hilfreich, um sich in dem Wimmelbild rund um das Café Einfall einigermaßen zurechtzufinden. Die Handlung an sich ist mal wieder nicht der Rede wert. Es geht vielmehr um die Atmosphäre, das Gefühl vom „Insel-Berlin“, in das sich Wehrdienstflüchtlinge, Kunstwillige, Hausbesetzer und allerhand schräge Vögel flüchteten und hier eine mittlerweile gern nostalgisch beschworene, lebendige Alternativ-Szene bildeten.

Café Einfall

Einige wirklich schräge Vögel haben sich in der Wiener Straße rund ums Café Einfall versammelt. Die Kneipe des Ex-Schwaben Erwin Kächele versprüht einen eher spröden Charme. Der aus Bremen stammende Frank Lehmann ist hier nach seiner vorzeitigen Entlassung aus dem Wehrdienst (diese Vorgeschichte wird in Neue Vahr Süd (2004) erzählt) gelandet. Er ist Der Kleine Bruder (2008) von Freddie, der hier arbeitete, jetzt aber andere Pläne verfolgt. Frank bekommt im Einfall nicht nur einen Putzjob, sondern auch Unterkunft und darf hin und wieder eine Schicht hinter der Theke übernehmen. Schon im Vorgängerbuch Wiener Straße arbeitet er nicht unerheblich darauf hin, aus der Kneipe auch ein Tagescafé zu machen.

In Glitterschnitter lässt Sven Regener ihn nun wie einen Weltmeister Milch aufschäumen. In den Cafés ringsherum ist nämlich Milchcafé mit Schaum der allerletzte Schrei. Chrissie, die Nichte von Kächele, backt dazu wieder ihre Kuchen. Im Nachbarladen, einst ein Intimfriseur, will Kacki von der Arsch-Art immer noch ein Konkurrenzcafé eröffnen. Neuerdings träumt er von einem im Alt-Wiener Stil, mit Sachertorte und Mélange. Denn Kacki, wir erinnern uns, ist Teil der Arsch-Art von P.Immel, bestehend aus allerlei Österreichern und Halbösterreichern, die sich in Berlin an Aktionskunst versuchen wollen, beispielsweise mit der Band Dr. Votz, und derweil ein Haus in der Nachbarschaft besetzen. Auch das aber eher eine Art Aktionskunst, den in Realität ist P.Immel der heimliche Besitzer des Hauses und wahre Besetzer sind nur die Punks im Hinterhaus.

Etwas für Liebhaber

Dir schwirrt schon jetzt ein wenig der Kopf und du fragst dich, was denn nun eigentlich passiert in Glitterschnitter? Dann solltest du vielleicht einen etwas sanfteren Einstieg mit einem der früheren Bücher versuchen. Wenn dir aber schon ganz warm ums Herz geworden ist, weil du endlich wieder von all den Pfeifen aus der Wiener Straße hörst, dann bist du hier genau richtig.

by ANBerlin [Ondré] (CC BY-NC-SA 2.0) via flickr
Denn da sind natürlich auch noch die Jungs von Glitterschnitter: Raimund an den Drums, Ferdi am Synthesizer und Charlie, der ab jetzt nur noch Karl Schmidt genannt werden will, an der Bohrmaschine. Die wollen unbedingt beim Wall City Festival mitmachen und brauchen dafür ein Demotape, das sie – natürlich – im Café Einfall aufnehmen wollen. Hier bekommen sie mit Lisa auch gleich ein neues Bandmitglied mit Saxofon. Auch H.R.Ledigt will bei der Wall City als Künstler groß rauskommen. Und dann sind da noch Jürgen 1,2 und 3, Michael 1 und 2, die Punks, der Kontaktbereichsbeamte, Kerstin alias Susi (Erwin Kächeles Schwester), und natürlich die schwangere Helga, für die und ihre Schwangerschaftsgruppe das Café Einfall sogar kurz zur Nichtraucherkneipe wird. Was zu einem mittleren Aufstand führt. Wer hat denn so etwas schon gehört? Nichtraucher! Nun ja, es ist 1980.

Shopping bei Ikea

Herrlich, wie Sven Regener Chrissie, Kerstin, H.R.Ledigt und Wiemer (dessen Manager und Freund Kerstins) beim neueröffneten Ikea einkaufen lässt. Es wird wie immer wild durcheinandergeredet, ja man darf sogar sagen gelabert. Auch wenn so mancher weiser Satz (Sven Regener ist ein großartiger Menschenkenner) dabei fällt, sind die Dialoge meist mehr als schräg und skurril. Es gibt jede Menge Situationskomik, aber auch Melancholie in der richtigen Mischung. Wild, überdreht und sehr warmherzig geht es zu in der Wiener Straße. Man merkt Sven Regener die Liebe zu seinen Figuren an. In einem Interview sprach er mal davon, dass sie alle irgendwie Spin-offs seiner selbst sind. Vielleicht spielen deshalb die Frauen eine nicht ganz so große Rolle. Ein wenig mehr Anteil an den inneren Monologen und Dialogen haben Chrissie, Kerstin, Helga und Lisa in Glitterschnitter von Sven Regener zwar schon erhalten. Aber im Grunde ist es doch ein Jungs-Ding, das da in der Wiener Straße läuft.

Sei´s drum. So liebenswert und so wenig machohaft wie es hier zugeht, fühlt man sich auch als Leserin wunderbar wohl, bestens unterhalten und warm umarmt. Was will man mehr. Ich warte schon jetzt auf den siebten Teil aus dem Lehmann-Kosmos. Und sollte vielleicht endlich mal mein Vorhaben, alle Bücher chronologisch zu lesen (da gibt es noch das zeitlich vor Herr Lehmann verortete Magical Mystery), in die Tat umsetzen.

 

Beitragsbild: Niederkirchner Straße 1980 by PETERSHAGEN (CC BY-NC-SA 2.0) via Flickr

 

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Sven Regener - Glitterschnitter.

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Sven Regener – Glitterschnitter
Galiani-Berlin September 2021, gebunden, 480 Seiten, € 24,00

2 Gedanken zu „Sven Regener – Glitterschnitter

  1. spätestens beim chronologischen Lesen stellt man fest, wie überflüssig einzelne Bücher seit dem kleinen Bruder tatsächlich werden. Wiener Straße, Glitterschnitter, das ist praktisch zweimal das gleiche Buch. Gleiche Atmosphäre, gleiche Figuren, gleiche Gespräche, trotz unterschiedlicher Ereignisse praktisch gleiche (Nicht-)Handlung. Und der größte Unterschied zu Kleiner Bruder ist letztendlich, dass dieser Text, vll der beste der Reihe dank des verschollenen Bruders tatsächlich mal so was wie ein (enigmatisches) Handlungszentrum hat. Glitterschnitter ist besser als Wiener Straße, die Atmo funktioniert besser. Es streicht den Vorgänger sozusagen literarisch durch. mE war es ein Fehler, vom Ursprungsprinzip der größeren Zeitsprünge abzuweichen & insgesamt 4 Bücher zu veröffentlichen, die sich zeitlich komplett aneinander legen lassen, insbesondere in einer Reihe, der „Handlung“ realtiv egal ist.

    1. Lieber Sören, ich habe Einspruch von dir quasi erwartet 😉 Du hast ja recht, was Handlung etc. betrifft. Und auch Omas Kaffeekränzchen trifft es nicht schlecht. Aber: ich bin gern dabei, beim Kränzchen und finde keines davon überflüssig. Ja, ich verlange sogar nach mehr davon. Gut, kann man als Fantum abbuchen. Ist aber nun mal so. Viele Grüße!

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