Lektüre Oktober 2021

Reichlich spät bin ich diesmal dran mit dem Rückblick auf die Lektüre im Oktober 2021. Das liegt zum einen bestimmt an der Buchmesse (Kanada-Kooperation im Vorfeld und dann eine komplette Woche Messe an sich), zum anderen an Renovierungsarbeiten hier (mein Lesezimmer ist komplett neu ♥) und einem Garten, der dringend winterfest gemacht werden musste. Gelesen habe ich natürlich dennoch und hier kommt nun der Rückblick.

Nadine Schneider - Wohin ich immer geheNadine Schneider – Wohin ich immer gehe

Mit ihrem Debüt „Drei Kilometer“ gewann Nadine Schneider_autorin den Bloggerpreis für Literatur Das Debüt. Ich durfte 2019 in der Jury mitentscheiden und mir war sofort klar, dass das meine Favoritin war.

Der zweite Roman wählt nun ein ähnliches Thema. Hier hat der Protagonist allerdings seine Heimat, das rumänische Banat, bereits 1987 verlassen und in Deutschland mehr oder weniger Fuß gefasst (während es in „Drei Kilometer“ um das Für und Wieder einer Flucht ging). Der Tod des Vaters führt in nun erstmals wieder in die alte Heimat. Der Eiserne Vorhang ist mittlerweile gefallen. Erinnerungen an seine Flucht durch die Donau kommen hoch. Und wieder die Frage, was mit seinem Freund David geschah, der eigentlich mitkommen wollte, aber plötzlich verschwand.
Leise, ruhig und mit gewohnt schöner Sprache erzählt Nadine Schneider die Geschichte. Große Empfehlung!

 

Tayari Jones – Das Jahr in dem wir verschwandentayari-jones-das-jahr-in-dem-wir-verschwanden

Tayari Jones großer Erfolg, durch Barack Obama geadelt, In guten wie in schlechten Tagen, ist irgendwie an mir vorbeigegangen. Mag sein, Ehe-, Liebesgeschichte, dass ich deshalb abgewunken habe. Ihr zweiter Roman, Das zweitbeste Leben, hat mich thematisch mehr angesprochen – Vater zweier Töchter in zwei verschiedenen Familien, wo nur eine von der Existenz der anderen weiß; Töchter treffen aufeinander und werden Freundinnen. Und diese Tayari Jones schreibt einfach großartig. Nun hat der Arche Verlag das bisher unveröffentlichte Debüt herausgebracht.  Es geht um eine schreckliche Mordserie an afroamerikanischen Kindern in Atlanta im Jahr 1979 – aus Sicht der Kinder. Spannend, dicht und authentisch erzählt.

 

Kat Menschik, Volker Kutscher - MitteVolker Kutscher und Kat Menschik – Mitte

Zwischen zwei Gereon Raths vertröstet eine neuer, wunderschön illustriert und gestalteter kleiner Kat Menschik- Band alle gespannt Wartenden.
Inhaltlich kommt nun nicht wirklich viel Neues, die Ereignisse von Olympia werden ein bisschen rekapituliert und ein bisschen (zu viel) erklärt. Auch funktioniert die Form des Briefromans nicht so 100%, es ruckelt hier und da.
Aber egal, ich halte diese Perle wieder mit so viel Freude in der Hand, treffe auf Fritze und Charley, spekuliere über Gereon und feiere das Duo Kat Menschik und Volker Kutscher und warte schon ungeduldig auf den nächsten “ richtigen“ Rath.

 

Nella Larsen - SeitenwechselNella Larsen – Seitenwechsel

Eien sehr lohnenswerte Wiederentdeckung: Ab heute kann man die Verfilmung von Nella Larsens Roman Seitenwechsel auf Netflix anschauen. Der Beginn verspricht eine große Nähe zum Buch, dass ich jedem ans Herz legen möchte. Bereits 1929 erschienen, ist es wirklich verblüffend modern und aktuell. Nella Larsen, deren afro-karibischer Vater eine weiße Identität annahm, behandelt das Konzept des „passing“, also das verdeckt in eine andere soziologische Gruppe Wechseln, hier anhand zweier sehr hellhäutiger Kindheitsfreundinnen mit sehr unterschiedlichen Lebenskonzepten. In den USA ist das Buch Teil des Kanon.

 

Wallace Thurman - The blacker the berryWallace Thurman – The blacker the berry

Wallace Thurmans sehr früher Tbc-Tod war sicher das größte Hindernis einer breiten Bekanntheit. Nur auf drei Veröffentlichungen brachte er es zwischen 1929 und 1932, The blacker the berry war sein Debüt.
Darin erzählt er anhand der sehr dunkelhäutigen Emma Lou vom auch in der Schwarzen Community grassierenden Rassismus, von der Hierarchisierung von Hautfarben, von der Verachtung, mit der hellhäutige Afroamerikaner auf ihre dunkleren Mitbürger:innen herabschauten. Aber das ist nicht das einzige herrschende Ressentiment. Die bürgerlichen Familien schauen auf die Arbeiter herab, die Intellektuellen auf die Ungebildeten, die Reichen auf die Armen. Thurman räumt kräftig auf mit der Vorstellung einer solidarischen Schwarzen Community.
Emma Lou trifft es besonders hart, denn die eigene (hellhäutige) Familie lehnt sie ab. Ihr Studium in Los Angeles zeigt ihr, dass sie nicht nur als Schwarze Studentin einer diskriminierten Minderheit angehört, sondern dass auch die afroamerikanischen Student:innen sie als Provinzlerin ohne Vermögen ausgrenzen. Schließlich sucht sie im weltoffeneren Harlem ihr Glück. Emma Lou ist aber eine durchaus sehr ambivalent angelegte Figur. Immer wieder rutscht sie in toxische Beziehungen und steht ihrem eigenen Glück mehr als einmal selbst im Weg. Die Sympathie der Leser:in liegt nicht unbedingt bei dieser Protagonistin. Die sie umgebenden Menschen, besonders die Kerle, benehmen sich aber noch schlimmer. Und Emma Lou ist gebunden in ihrer Zeit.
Es ist ein ganz anderes Milieu als das bürgerliche, aufstiegsorientierte bei Nella Larsen, in dem sich The blacker the berry bewegt. Hier kreischt der Jazz, hier fließt der Alkohol in geheimen Speakeasys; viel Sex und Partys, wenig Arbeit und Verantwortung. Wallace Thurman, selbst mittendrin in diesem wilden Milieu, schaut mit einer gewissen Ironie auf sein Romanpersonal. Der Leser*in bleibt zu hoffen, dass Emma Lou den Absprung schafft.

 

Tsitsi Dangarembga - AufbrechenTsitsi Dangarembga – Aufbrechen

Im Oktober wurde der simbabwischen Autorin Tsitsi Dangarembga der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Sehr zu Recht, wie ich finde. Sie ist nicht nur eine engagierte, mutige, sondern auch eine literarisch sehr interessante Autorin.
In ihrer „Tambuzai-Trilogie“ erzählt sie vom Aufwachsen einer jungen Frau im starren patriarchalen System, im anfänglich noch kolonialen System Rhodesiens, von den gesellschaftlichen Umbrüchen und dem steten Bemühen um Selbstermächtigung der Protagonistin. Die Bände erschienen zwischen 1988 und 2018.
Der Orlandabuchverlag veröffentlicht Dangarembga im deutschsprachigen Raum. Der erste Band „Aufbrechen“, der Tambu bis zur höheren Schule begleitet, liegt in der „alten“ Übersetzung von Ilja Trojanow vor.

Tambu bekommt nach dem Tod ihres Bruders die Möglichkeit, seinen Platz an der Missionsschule einzunehmen. Eine Chance, die sich Mädchen im streng patriarchalen System Rhodesiens in den 1960er Jahren selten bot. Zielstrebig und ehrgeizig überwindet Tambu noch so manches Hindernis. Eine dicht erzählte Geschichte weiblicher Selbstermächtigung. Band 3 Überleben ist bereits erschienen, Band 2 erscheint 2022.

 

Dorothy Gallagher Und was ich dir noch erzählen wollteDorothy Gallagher – Was ich dir noch erzählen wollte

Als der Publizist und Verleger Ben Sonnenberg im Juni 2010 im Alter von 74 Jahren starb, geschah das nicht überraschend oder unvorhersehbar, wenn auch dann doch vielleicht plötzlich. Dreißig Jahre lebte Dorothy Gallagher bereits mit der Sorge um ihn zusammen. Bereits bei der Heirat litt Sonnenberg unheilbar an Multipler Sklerose, lange Zeit war er bereits auf massive Hilfen angewiesen. Letztendlich starb er dann an den Folgen einer Erkältung.
Zurück blieb Dorothy Gallagher, die ihm doch noch so viel zu erzählen hätte. Von ihrer neuen Wohnung, ihrem Alltag ohne ihn, dem Tod der gemeinsamen Katze und vieler Freund:innen; von ihrer Leidenschaft zum Fotografieren und ihrer alte Schreibmaschine; von ihrer Mutter und ihrer Trauer. Leise, zart und unbedingt empfehlenswert!

 

Sven Regener - GlitterschnitterSven Regener – Glitterschnitter

Sven Regeners Frank Lehmann- Kosmos ist mittlerweile auf sechs Bücher angewachsen. Hier im Bild nicht nach Erscheinungdatum, sondern in der chronologischen Reihenfolge der Geschichte angeordnet.
Es gibt Einwände, die Bücher ähnelten sich zu sehr, hätten keine Handlung, immer das gleiche Gelaber. Ich liebe jedes einzelne davon und habe die Leute aus der Wiener Straße sehr ins Herz geschlossen.
Glitterschnitter, nach der gleichnamigen Band von Raimund, Kacki und Karl Schmidt, macht da keine Ausnahme. Wenige Tage rund ums Café Einfall und die Intimfrisur (oder bald Olde Vienna?), jede Menge Milchschaum und Krach, Verzeihung, Musik, ein Großeinkauf bei Ikea und herrlich skurrile Dialoge. Großartig!

 

Jamaica Kincaid ‍Mein BruderJamaica Kincaid – Mein Bruder

Jamaica Kincaid ist eine beeindruckende Frau. Geboren als Elaine Potter Richardson auf Antigua, verließ sie mit 16 die Insel, ihre Mutter, mit der sie zeitlebens ein schwieriges, teils hasserfülltes Verhältnishatte, ihren Stiefvater und drei Brüder und ging als Au-pair-Mädchen nach New York, um Geld zu verdienen. Bald schmiss sie aber den Job und schrieb Artikel, auch für den damaligen Herausgeber des New Yorker, William Shawn, dessen Schwiegertochter sie wurde.
1978 veröffentlichte der New Yorker dann ihre Kurzgeschichte „Girl“. In einem einzigen Satz handelte sie von einer schwierigen Mutter- Tochter Beziehung. Als Autorin gab sie sich den Namen Jamaica Kincaid.
Mit kritischem, wenn auch manchmal sehnsuchtsvollem Blick schaute sie auf ihre alte Heimat Antigua.
Über ihre dominante Mutter schrieb sie: „Meine Mutter hasste ihre Kinder.“ Und die Kinder hassten zurück. Dennoch blieben alle drei Söhne bei der Mutter wohnen, selbst als sie längst erwachsen waren. Einer davon war Devon, der jüngste, drei Jahre alt, als Jamaica die Familie verließ.
Sie kannte ihren Bruder nicht, als sie die Nachricht von seiner AIDS-Erkrankung erhielt, reiste aber sogleich mit Medikamenten auf die Insel. Devon erholt sich, kehrt aber alsbald zu seinem alten Lebenswandel zurück, zu ungeschütztem Sex mit jeder Menge Frauen, zu Drogen, Kleinkriminalität. Den zweiten Krankheitsschub hat er nicht überlebt.
Jamaica Kincaid schreibt offen, schonungslos, durchaus mit Ambivalenz im Blick auf die Charaktere, mit Zorn, Empathie und Fassungslosigkeit. Die Sprache ist besonders, voller Wiederholungen, rhythmisiert, mit Einschüben in Klammern, Nachsätzen.
Ein ganz besonderer Text, kraftvoll, erschütternd. Er erschien bereits 1999 in der auch nun vorliegenden Übersetzung von Sabine Herting, ist aber vom aki Verlag durch ein kluges Nachwort von Jackie Thomae ergänzt und ganz besonders schön gestaltet worden. Jedes Buchcover des ersten Programms wird von einer Künstlerin individuell entworfen. Hier ist es die mosambikanische Künstlerin Cassi Namoda.

 

Soweit meine nachgetragene Lektüre im Oktober 2021. Alles sehr gute und empfehlenswerte Bücher. In einer guten Woche ist bereits der November vorüber. Auch da habe ich einiges Gutes gelesen. Der Rückblick erscheint hoffentlich pünktlicher. Bis dahin alles Liebe! Bleibt gesund!

 

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