Nastja ist um die Fünfzig, Tiefbauingenieurin aus Kiew, als sie sich auf die Anzeige der Erzählerin im neuen Buch von Natascha Wodin, Nastjas Tränen, meldet, die eine Putzhilfe sucht. Wie auch in ihren vorangegangenen Romanen Sie kam aus Mariupol und Irgendwo in diesem Dunkel, in denen sie sich auf die Spuren ihrer Eltern begibt, steckt viel Autobiografisches in diesem Text.
Die Erzählerin ist wie die Autorin 1992 gerade in Berlin angekommen. Der Umzug hat ihren Rücken stark in Mitleidenschaft gezogen, weswegen sie nun Hilfe im Haushalt benötigt. Eher durch Zufall fällt die Wahl auf Nastja. Ihre Herkunft aus der Ukraine weckt allerdings starke Emotionen in der Erzählerin. Sei es durch die vertraute russische Sprache, sei es durch die Vergangenheit der Mutter, die als junge Frau aus der Ukraine zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich geschickt wurde und ihre Sehnsucht, ihr Heimweh nie ganz überwand, bis sie sich 1956 das Leben nahm.
„Schlagartig erkannte ich in ihren Tränen das Heimweh meiner Mutter wieder, dieses grenzenlose, unheilbare Gefühl, das das Rätsel meiner Kindheit gewesen war, das Mysterium meiner Mutter, die große dunkle Krankheit, an der sie gelitten hatte, solange ich sie kannte. Fast jeden Tag hatte ich ihre Tränen gesehen, und ich hatte immer gespürt, dass ich gegen das, was sich Heimweh nannte, keine Chance hatte, dass meine Mutter sich jeden Tag ein wenig mehr darin verlor, dass sie unentwegt im Verschwinden begriffen war, dass sie eines Tages endgültig weg sein und nur noch das Heimweh von ihr zurückbleiben würde.“
Ein Frauenleben in der Ukraine
Nastja, geboren 1942, hatte in ihrer Heimat noch den Holocaust miterlebt, ergriff den Beruf der Tiefbauingenieurin in der Sowjetunion weniger aus Neigung als aus Notwendigkeit und führte mit ihrem Mann, dem Arzt Roman, ein sehr bescheidenes, aber auskömmliches Leben. Auch als die Ehe scheiterte, die einzige Tochter Vika in die Niederlande verschwand und ihren kleinen unehelichen Sohn Slawa bei Nastja zurückließ, ging das Leben weiter. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Etablierung einer korrupten Oligarchie wurde das Leben aber immer elender, kaum konnte Nastja sich und ihren Enkel durchbringen.
Sie wählte den Weg, den viele Osteuropäerinnen gingen und immer noch gehen: als überqualifizierte Kräfte für Hilfsjobs in den Westen. Zunächst geht Nastja mit einem Touristenvisum nach Berlin zu ihrer Schwester, die schon vor Jahren wegen ihrer jüdischen Abstammung hier Aufnahme fand. Ziemlich bald hat sie einen guten Verdienst durch zahlreiche Putzjobs. Nachdem das Visum abgelaufen ist, verfolgt sie allerdings die Angst als nunmehr Illegale.
Zunächst versucht sie es mit einer gefälschten ukrainisch-jüdischen Identität. Als das auffliegt, heiratet sie einen Deutschen. Die Ehe scheint zunächst ein Erfolg, aber Achim erweist sich immer mehr als Unglück, verliert seinen Job, lässt sich von Nastja aushalten, nutzt sie aus. Sein Krebstod ist für sie fast eine Erleichterung. Die gemeinsame Wohnung kann sie sich aber, nachdem sie die von Achim angehäuften Schulden beglichen hat, nicht mehr leisten.
Migrantin in Berlin
Den ersten Teil von Nastjas Tränen lässt Natascha Wodin ihre Erzählerin fast dokumentarisch berichten. Nüchtern, ja kühl fällt dieser Bericht aus. Dann kommt die sie selbst ins Spiel, aus dem Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis wird etwas wie eine Freundschaft. Sie unterstützt Nastja bei Behördengängen, gibt ihr Tipps und bietet ihr schließlich ein Zimmer in ihrer Wohnung an. Was sie tatsächlich in dieser Beziehung sucht, bleibt ein wenig rätselhaft. Richtig nahezukommen scheinen sich die beiden Frauen nicht. Was auch ein wenig an einer gewissen Überheblichkeit der Erzählerin liegen könnte. So spricht sie immer mal wieder von der „slawischen Mentalität“, dem „seit jeher geknechteten Land“, der „Volksdemut“. Sie denkt dabei sicher an die Mutter, die sie so früh verließ.
Ein wenig scheint sie sich aber auch in dieser entwurzelten, nie ganz Tritt findenden Person wiederzufinden. Auch sie fühlte sich ja lange als „displaced person“, als sie nach dem Krieg in einem Lager aufwuchs.
Natascha Wodin ist mit Nastjas Tränen wieder ein in seiner Kargheit berührendes Porträt gelungen. Es erreicht nicht ganz die Intensität ihrer beiden Elternbücher. Das mag daran liegen, dass die Erzählerin hier nur mittelbar betroffen ist und auch ihre eigene Position weniger hinterfragt als in diesen. Dass sie ein für unsere heutige westliche Gesellschaft so typisches, nicht aus ihr wegzudenkendes, aber viel zu selten beleuchtetes Schicksal, nämlich das der osteuropäischen Arbeitsmigrant:innen, zum Thema wählt, macht ihr Buch zu einem wichtigen.
Beitragsbild via Pixabay
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Natascha Wodin – Nastjas Tränen
Rowohlt Verlag August 2021, 192 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag, € 22,00
Das hat viele Ähnlichkeiten mit „Die Rache ist mein“ von Marie NDayie. Dort sucht u.a. eine Anwältin Freundschaft mit ihrer Putzkraft. Nebulös und sehr gut. Ich merke mir mal Nastjas Tränen.