Ali Smith – Sommer

„Wie tief die Dunkelheit auch sei, wir müssen das Licht selbst mitbringen“ (Stanley Kubrick) – mit unter anderen diesem Motto beginnt Ali Smith ihren Roman Sommer und beendet mit ihm zugleich ihre großartige Jahreszeiten-Tetralogie. Herbst, Winter, Frühling waren für sich schon beeindruckende Bücher, die in die Dunkelheit unserer unruhigen Tage hinabstiegen und versuchten, sie zumindest streckenweise zu beleuchten. Mit Sommer rundet sich das ganze Werk auf überraschende und geniale Weise.

„Die kürzeste und heikelste Jahreszeit, die nicht verantwortlich gemacht wird – weil man den Sommer ja gar nicht zu fassen kriegt außer in Fitzelchen, Fragmenten, Augenblicke, aufblitzenden Erinnerungen an sogenannte oder eingebildete perfekte Sommer, Sommer, die es nie gab.“

Ali Smiths hochaktuelles Projekt ist mit dem letzten Band im Jahr 2020 angekommen. Der Sommer ist noch ein Sehnsuchtsort, seine Wärme und Helligkeit noch in weiter Ferne, die Mauersegler als Symbol des Sommers noch nicht zurückgekehrt. Im Februar des Jahres zeichnet sich eine rätselhafte Pandemie ab – ihre Tragweite versuchen wir heute gerade erneut zu fassen. Im Februar 2020 erschien das Corona-Virus nur als ein weiteres Problem unter vielen, die die britische Autorin in ihrer Bestandsaufnahme der britischen Gegenwart benannte. Brexit, Migration, Klimawandel, soziale Kälte und Populismus sind die Themen, die Smith in ihrer Tetralogie beleuchtet und auf ihre ganz eigene Art in Geschichten voller Assoziationen, literarischer Referenzen und Sprachkunst bearbeitet. Aber die Pandemie kostet im Laufe des Jahres immer mehr Kraft und Leben.

Zusammenführung

Standen die drei Vorgänger praktisch für sich und hatten nur den typischen Smith-Stil und ihr Repertoire an Referenzen an die „Hofheiligen“ der Autorin gemeinsam, etwa an Charles Dickens und  William Shakespeare, so führt die Autorin in Sommer überraschender- und beglückenderweise einige ihrer Charaktere auf virtuose Art zusammen. Den Leser:innen, die die vorangegangenen Teile nicht kennen, wird das nicht weiter auffallen, da Ali Smith diese Beziehungen nicht groß ausstellt, man sie selbst quasi im Nebensatz entdecken muss. Ein Großteil des Lesevergnügens wäre ohne ihre Kenntnis aber verloren.

Mauersegler
Mauersegler by Keta, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Im Mittelpunkt steht dieses Mal die Familie von Grace Greenlaw. Die ehemalige Schauspielerin lebt mit ihren heranwachsenden Kindern Robert und Sacha Tür an Tür mit dem Ex-Mann , der mit seiner neuen Freundin einfach ein Haus weitergezogen ist. Der dreizehnjährige Robert ist hochbegabt, aber reichlich seltsam und destruktiv, ja manchmal geradezu bösartig. Seine sechzehnjährige Schwester Sacha ist eine Idealistin mit viel Sympathie für Greta Thunberg und einem Abschiebehäftling als Brieffreund. Am Strand von Brighton, wo die Greenlaws leben, begegnet sie Arthur und Charlotte.

Bekannte figuren

Die beiden kennt man aus Winter, was der Leser:in aber erst allmählich klar wird (immerhin liegt die Lektüre dieses zweiten Band der Tetralogie schon eine Weile zurück). Aber ja, da gab es einen Arthur mit seinem Natur-Blog „Art in Nature“, frisch verlassen und ziemlich mies ausgetrickst von seiner Freundin Charlotte. Nun scheinen die beiden wieder vereint zu sein – nicht als Paar, aber immerhin als Freunde. Die Beiden sind unterwegs nach Norden, um einen alten Herrn zu besuchen, den 104jährigen Daniel Gluck.

Nun spätestens erkennt man Ali Smiths Plan der Zusammenführung ihrer Charaktere. Denn im Eröffnungsband Herbst war dieser Daniel Gluck 101 und schien dem Tode entgegen zu dämmern. An seinem Bett saß damals die Nachbarin Elisabeth Demand. Und auch in der Erzählgegenwart kümmert sie sich rührend um Daniel. Und wird das Herz von Arthur gewinnen, der mit ihr ins Cottage seiner Mutter Sophia Cleeves in Cornwall ziehen wird – genau, dort spielte Winter.

Nach Norden

Zunächst einmal nehmen aber Arthur und Charlotte Grace Greenlaw und ihre Kinder mit auf ihre Reise nach Norfolk. Robert, großer Einstein-Fan, weiß vom kleinen Dorf Roughton, wo der große Physiker 1933 auf seiner Flucht vor den Nazis einige Wochen verbrachte, und Grace hat einst den „Sommer ihres Lebens“ in der Gegend verbracht.

Auf eine ganz andere Reise macht sich parallel dazu der alte Daniel Gluck. Im Pflegeheim, während der Besuche Elisabeths – immer wieder verirrt sich sein Geist weit in die Vergangenheit. In die Zeit des Zweiten Weltkriegs, als Daniel und sein Vater 1940 als „feindliche Ausländer“ im Hutchinson Camp auf der Isle of Man interniert waren. Daniel und sein Vater waren schon vor dem Krieg als Juden vor den Nazis von Deutschland nach England geflohen, während die Schwester Hannah zurückblieb. Ihre Geschichte scheint (Ali Smith arbeitet mehr mit Andeutungen als mit Gewissheiten) wiederum mit der der Familie Greenlaw verknüpft.

Die Episoden der Vergangenheit, in die sich der dahinschwindende Geist Daniels verliert, gehören zu den eindringlichsten und berührendsten Passagen des Romans. Gleichzeitig ermöglichen sie Ali Smith auch in Sommer wieder einen reichen Bezugsrahmen. In Camp Hutchinson waren auch Prominente wie Kurt Schwitters oder der Maler Fred Uhlmann interniert. Und auch Charlie Chaplin bekommt wieder eine Reminiszenz, genauso wie die Bildhauerin Barbara Hepworth und natürlich Dickens und Shakespeare.

Wie Ali Smith ihre Charaktere aus Herbst, Winter und Frühling verknüpft, die Zeitebenen von Erzählgegenwart und Daniels weit zurückreichenden Erinnerungen verwebt, ist so leichthändig wie genial. Bei aller Komplexität, in die man sich zugegebenermaßen zunächst immer ein wenig einlesen muss, erzählt Smith immer mit viel Witz. Ihre eigenwillige Sprachkunst, voller Assoziationen, Wortspiele, ist von Silvia Morawetz wieder großartig übersetzt worden.

Bücher brauchen Zeit

Ali Smiths Jahreszeiten-Tetralogie zu lesen, ist ein großes intellektuelles und ästhetisches Vergnügen. Um sie einmal selbst zu zitieren:

„Bücher brauchen Zeit, um sich uns nach und nach zu erschließen, wir brauchen Zeit, um zu begreifen, was sie ausmacht – strukturell, in den thematischen Anschlüssen, den Gedanken, die sie auslösen, und den Korrespondenzen mit Büchern, die ihre Vorläufer waren, denn Bücher werden eher von Büchern hervorgebracht als von ihren Verfassern; sie sind das Ergebnis aller Bücher, die vor ihnen da waren.“

Sternenhimmel
by -col- (CC BY-SA 2.0) via flickr

Hoffnung im dunkel

Und natürlich ist ein Buch von Ali Smith immer auch politisch. Die Geschichte Großbritanniens, ihre dunklen Stunden, Klimaveränderung, Migration, die Vergiftung der öffentlichen Debatten, gesellschaftlicher Egoismus und Gleichgültigkeit, Verarmung der Kultur – die Anklagen stehen fest, werden benannt, aber sie kommen durch die Lakonie, die Kühle und den Witz der Anklägerin niemals moralinsauer rüber. Und Ali Smith hegt auch immer das kleine Pflänzchen Hoffnung. Es fehlte, vielleicht jahreszeitenbedingt, ein wenig in Winter. In Herbst wird es vermittelt durch Ovids Metamorphosen, in Frühling durch die stets wiedererwachende Lebenskraft der Natur.

In Sommer ist es für Ali Smith nicht nur dieser selbst und die Mauersegler, die ihn Jahr für Jahr ankündigen, sondern vor allem der „innere Sommer“, die Kunst und die Schönheit, die Hoffnung vermitteln. Am Ende stehen die Protagonisten zusammen:

„Sie standen unter einem Nachthimmel auf einem Parkplatz, auf dem vielleicht Einstein selber einmal stand und zu den winzigen erleuchteten Pünktchen in der Schwärze hinaufsah, zu den alten und echten und bereits erloschenen Sternen, bis Roberts Schwester, die aufgewacht war und sie winken sah, sich den Mantel um die Schultern zog, aus dem Auto ausstieg und dahin kam, wo sie in der Kälte standen , und alle zusammen schauten sie hinauf, zeigten auf die Sternbilder, deren Namen sie wussten, und rieten bei den anderen herum.“

 

Das Buch wurde häufig besprochen, beispielsweise bei Letteratura, Bunte Gespinste, Buchbube, Feiner Reiner Buchstoff, Seitenhinweis

 

Beitragsbild via Pixabay by Felix Mittermeier

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Ali Smith - Sommer.

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Ali Smith – Sommer
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz
Hardcover mit Schutzumschlag, 384 Seiten, € 22,00

2 Gedanken zu „Ali Smith – Sommer

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