Gabrielle Roy – Gebrauchtes Glück

Die franko-kanadische Schriftstellerin Gabrielle Roy (1909-1983) gilt als eine der bedeutendsten Autorinnen ihres Landes und ihr 1945 erstmals erschienener Debütroman Bonheur d’occasion  (deutsch: Gebrauchtes Glück) als Meilenstein und Klassiker. Man zählt ihn sogar zu den Auslösern der sogenannten „Stillen Revolution“, von der ich bisher noch nie gehört hatte. Laut Wikipedia ist damit der „tiefgreifende soziale und wirtschaftliche Wandel, geprägt von der Säkularisierung der Gesellschaft und der Schaffung eines Wohlfahrtsstaates“ in Québec gemeint. „Die Provinzregierung brachte zwischen 1960 und 1966 das zuvor von der römisch-katholischen Kirche dominierte Gesundheits- und Bildungswesen unter die Kontrolle des Staates, baute die staatlichen Dienstleistungen aus und tätigte umfangreiche Investitionen in Bildung und Infrastruktur. Sie erlaubte den Staatsangestellten, sich in Gewerkschaften zu organisieren, und ermöglichte der mehrheitlich französischsprachigen Bevölkerung, die Kontrolle über die Wirtschaft ihrer eigenen Provinz zu übernehmen.“

Wie unterprivilegiert und elend Teile der franko-kanadischen Bevölkerung noch Mitte des vergangenen Jahrhunderts leben mussten, zeigt Gabrielle Roy anhand der Geschichte einer jungen Frau in Gebrauchtes Glück. Eine mich etwas verwirrende Titelwahl, geht es doch im Roman tatsächlich um das „Glück der Gelegenheit“ oder auch eine „glückliche Gelegenheit“, so wie es auch der Originaltitel vorgibt oder, wie ein 2000 veröffentlichter Auszug betitelt wurde, „zufälliges Glück“.

Saint Henri 1943
Saint Henri 1943 Rue De Couvent by Archives de la Ville de Montréal (CC BY-NC-SA 2.0) via flickr

Saint-Henri

Die 19jährige Florentine lebt 1940 in einer Arbeiterfamilie im Stadtteil Saint-Henri. Das mittlerweile längst gentrifizierte Arbeiterviertel ist zu der Zeit durch seine Lage am Lachine-Kanal von Industriebetrieben und Gerbereien geprägt und traditionell sehr katholisch und einkommensschwach. Auch Florentine Lacasses Familie befindet sich stets am Existenzminimum, Hunger und auch Angst vor Obdachlosigkeit sind stets präsent. Die Mutter, Rose-Anna ist mit ihrem elften Kind schwanger, acht der Kinder leben noch zuhause. Florentine, die Älteste, ist die einzige, die ein regelmäßiges Einkommen bezieht. Sie arbeitet im Restaurant des Quinze-cents und träumt von einer besseren Zukunft. Hier Vater ist ein gutmütiger Taugenichts, der seine Stelle als Bauarbeiter infolge der Weltwirtschaftskrise verloren hat und seitdem nicht mehr auf die Beine kommt. Der älteste Sohn Eugène verpflichtet sich bereits mit siebzehn bei der Armee, um für sich und seine Familie etwas dazuzuverdienen.

Florentine ist eine Schönheit, fleißig und verantwortungsvoll, dennoch wächst sie der Leserin nicht ans Herz. Ist sie doch gleichzeitig eitel, ehrgeizig und sehr auf ihren Vorteil und Aufstieg bedacht. Bei Männern ist sie so naiv wie berechnend. Ein Gast des Restaurants, der schneidige Schlosser Jean Lévesque sticht ihr ins Auge. Auch er ist extrem ehrgeizig, will durch ein Studium aufsteigen. Das junge, hübsche Mädchen aus der Unterschichte ist ihm da nur hinderlich. Er ist zwar von Florentine fasziniert, verführt und schwängert sie, lässt sie dann aber fallen. Florentine bleibt ihm trotzdem ergeben, trauert ihm nach.

Die Gelegenheit

Der anständige, in Florentine bislang vergeblich verliebte Emmanuel Létourneau, der in der Armee dient, ist für die junge Frau die „glückliche Gelegenheit“. Denn sie schafft es geschickt, ihn während eines zweiwöchigen Heimaturlaubs zu einer Heirat zu bewegen und sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Ihre Schwangerschaft verschweigt sie ihm.

Im Hintergrund der Geschichte spürt man die realen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und natürlich des Zweiten Weltkriegs, bei dem Kanada an der Seite der Alliierten kämpft. Viele junge Kanadier meldeten sich zur Armee, nur um der Armut zu entgehen. Diese Armut bei kaum vorhandener staatlicher Fürsorge realistisch und erschütternd zu schildern, ist das große Verdienst von Gabrielle Roy und ihrem Roman Gebrauchtes Glück. Das Elend, die Ausweglosigkeit, die große Schere, die zwischen der Einkommenssituation der franko-kanadischen Bevölkerung in Saint-Henri und dem als Gegenpol immer beschworenen, am Hügel liegenden Wohnort der wohlhabenden Anglophonen, Westmount, besteht (auch heute noch beträgt das Einkommen der englischsprachigen Bevölkerung ein Vielfaches desjenigen der Franko-Kanadier), der Fatalismus, aber auch die Resilienz und Stärke besonders der Frauen – das alles zu schildern, gelingt Gabrielle Roy wirklich grandios.

Gabrielle Roy and Boys of St. Henri
Gabrielle Roy and Boys of St. Henri – Conrad Poirier, Public domain, via Wikimedia Commons

Psychologischer Realismus

Roy erzählt auktorial, im Stil des psychologischen Realismus. Und tatsächlich ist sie darin den Naturalisten des beginnenden 20. Jahrhunderts auch rein zeitlich näher als der heutigen, eher multiperspektivisch und assoziativ erzählten Literatur. Sie bohrt sich regelrecht in ihre Figuren hinein (manchmal führt das auch dazu, ein wenig zu sehr zu psychologisieren), lässt Ambivalenzen zu, seziert sie schonungslos. Sonja Finck und Anabelle Assaf haben den Roman in ein schönes, gut lesbares Deutsch übertragen.

Ich als Leserin konnte dabei recht wenig Sympathie für die eigentliche Hauptprotagonistin Florentine aufbringen. Und das obwohl ihr von einem Mann so böse mitgespielt wurde, obwohl sie ihr Leben anpackt und ihr Streben nach Glück natürlich mehr als legitim ist.

Das Buch einen „Meilenstein der feministischen Literatur“ zu nennen, ist sicherlich vorwiegend historisch motiviert. Florentine ist in „typisch weiblichen“ Handlungsmustern gefangen, darin ist sie wenig feministisch. Von weiblicher Solidarität ist auch wenig zu spüren. Darin ist der Roman tatsächlich ein wenig angestaubt. Immerhin fügt sich Florentine nicht in ihr Schicksal, sondern nimmt es selbst in die Hand. Wenn auch mit zweifelhaften Mitteln.

Der Roman umfasst nur wenige Monate, von Februar bis November 1940. Der letzte Satz lautet, und ist darin prophetisch:

„Düstere, tief hängende Wolken kündeten von dem bevorstehenden Unwetter.“

Gebrauchtes Glück ist nicht zuletzt auch ein Roman über und gegen den Krieg.

 

 

 

Beitragsbild: Feature. St. Henri – Boat at Canal by Bibliothèque et Archives nationales du Québec CC0

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Gabrielle Roy – Gebrauchtes Glück
aus dem kanadischen Französisch von Sonja Finck und Anabelle Assaf
Aufbau September 2021, gebunden mit Schutzumschlag, 455 Seiten, € 24,00

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