Bryan Washington – Dinge an die wir nicht glauben

Zwei junge Männer leben seit vier Jahren in Houston zusammen und beginnen, an ihrer Beziehung und Liebe zu zweifeln. Beide tun sich nicht leicht mit Nähe. Beide kommen aus zerbrochenen Familien. Der junge Amerikaner Bryan Washington macht aus dieser Konstellation einen sehr berührenden, lässigen Roman mit neuen, überraschenden Facetten: Dinge, an die wir nicht glauben.

Hier stellt sich mal wieder die Frage, wie dieser deutsche Titel entstanden ist, so nichtssagend und unpassend er am Ende erscheint. Denn an vielen Dingen mag im Roman gezweifelt werde, an Liebe, Beziehung, Familie, Nähe oder Zugehörigkeit. Sie alle spuken den Protagonisten aber stets im Kopf herum. Und es sind durchaus Dinge, an die sie zumindest glauben möchten. Im Original ist das Buch „Memorial“ betitelt.

„Mike fliegt nach Osaka, aber seine Mutter kommt nach Houston.“

So beginnt Bryan Washington seinen Debütroman. Sachlich, unspektakulär, und doch möchte man gerne sofort wissen, was dahintersteckt. Die Tragweite des Ganzen enthüllt sich erst nach und nach.

Eine Einwanderungsgeschichte

Mike ist als kleiner Junge mit seinen Eltern aus Japan in die USA eingewandert. Die Ehe seiner Eltern zerbrach, häusliche Gewalt war wohl mit im Spiel, und zwar von beiden Seiten. Der Vater verschwand eines Tages in die alte Heimat. Die Mutter Mitsuko zog darauf ihren Sohn in ziemlicher Armut auf. Unterstützung vom Vater kam keine. Als Mike erwachsen war, zog auch Mitsuko zurück nach Tokio.

Nun arbeitet Mike als Koch und wohnt im mittlerweile von der Gentrifizierung erfassten ehemaligen Wohnviertel der Schwarzen Community Houston, Third Ward. Nach einer recht promisken Vergangenheit lebt er mit Benson, einem jungen Schwarzen, zusammen. Auch Bens Eltern haben sich vor langer Zeit getrennt, der Vater ist Alkoholiker, die Mutter hat erneut geheiratet und in der neuen Familie zwei kleine Söhne. Ben arbeitet als Erzieher in einer Kindertagesstätte. Neben den dysfunktionalen Familien, aus denen sie stammen, haben er und Mike die Erfahrung des Alltagsrassismus ebenso gemeinsam wie die Tatsache, dass ihre Eltern ihr Schwulsein nie wirklich akzeptiert haben. Benson wurde nach seinem Comingout sogar vor die Tür gesetzt. Dennoch hält er Kontakt zu seiner Familie, besonders zu seiner Schwester Lydia.

Aus der anfänglich stürmischen, stark sexuell geprägten Beziehung von Mike und Ben ist nach vier Jahren ein wenig die Luft raus. Es gibt häufig Streit, die Versöhnung geschieht meist durch Sex, über die Probleme geredet wird kaum. Ben leidet darunter, dass Mike immer wieder auch andere sexuelle Kontakte sucht. Die beiden stecken eindeutig in einer schweren Krise, aber wie weiter?

Eine Familiengeschichte

Da erhält Mike die Nachricht, dass seine Vater Eiju in Osaka unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist. Kurzentschlossen fliegt er nach Japan. Das ist die Ausgangssituation, vom ersten Satz an wissen wir, dass Mikes Mutter Mitsuko gleichzeitig auf dem Weg nach Houston ist, um ihren Sohn zu besuchen. Die besondere Perfidie der Sache wird aber erst ein wenig später deutlich: Mike hat seine Mutter wissentlich zu einer Zeit in die USA eingeladen, in der er sich selbst in Japan befinden wird.

Mitsuko wohnt nun also mit dem ihr bisher unbekannten Ben, den sie als schwulen Partner ihres Sohnes ablehnt, in der kleinen Zweizimmerwohnung in Houston. Und verbringt viel Zeit mit Kochen. Der japanischen Küche räumt Bryan Washington in Dinge, an die wir nicht glauben einigen Raum ein. Beim gemeinsamen Kochen kommen sich Ben und Mitsuko schließlich auch langsam näher.

by bryan… (CC BY-SA 2.0) via flickr

Währenddessen nähert sich auch Mike in Osaka seinem sterbenskranken Vater an. Dieser führt dort eine Kneipe, die bald Mittelpunkt ihres gemeinsamen Lebens wird.

Erzählt wird die Geschichte in drei Teilen, der erste und dritte gehört Benson, der mittlere Mike. Interessant sind die gegenläufigen Wahrnehmungen von Ben und Mike. Je nachdem wem der/die Leser:in gerade zuhört, verschiebt sich nicht nur die Geschichte leicht, sondern verlagert sich auch die Sympathie zu den Protagonist:innen. Es gibt eben nicht nur unterschiedliche Wahrheiten, sondern auch unterschiedliche Wahrnehmungen. Die Charaktere Bryan Washingtons sind komplex, und gerade dadurch so authentisch.

Eine schwule Liebesgeschichte

Neben dieser starken Figurenzeichnung beeindruckt vor allem die Unaufgeregtheit, mit der der junge Autor erzählt. In Rückblenden wird nicht nur eine Einwanderergeschichte miterzählt, sondern eben auch Themen wie Rassismus, Queerness, Gentrifizierung, Alkoholismus und zerbrechende Familien eingebunden. Woraus viele Autor:innen einen wuchtig-pathetischen Roman stricken würden (ich denke da an Romane von Hanya Yanigihara oder Rebekka Makkai), erzählt Bryan Washington locker eine moderne Familien- und Beziehungsgeschichte. Der aber niemals die Tragik oder Tiefe fehlt. Diese werden einfach ohne viel Aufhebens miterzählt. So wie man erst beiläufig erfährt, dass die Tabletten, die Ben regelmäßig nehmen muss, solche gegen seine HIV-Infektion ist. Ben ist HIV-positiv, auch das bestimmt natürlich seine Beziehung zu Mike.

Bryan Washington ist Jahrgang 1993. Sein Erzählstil ist modern, lässig, sprachlich direkt. Er bindet Textnachrichten, Telefonate und Fotos ein, ist sehr dialogreich. Auch wenn mir die recht derbe, sexualisierte Wortwahl immer mal wieder aufgestoßen ist (da bin ich noch recht oldschool), würde ich gerade die Zartheit und Wärme von Dinge, an die wir nicht glauben besonders herausstellen. Sowohl wie sich Ben und Mitsuko annähern als auch der Umgang von Mike mit seinem sterbenden Vater ist so berührend wie unpathetisch geschildert. Und man wünscht den Beiden unbedingt ein Happy End, wie auch immer das aussehen mag. Bryan Washington ist ein zu guter Autor als dass er es uns mitliefern würde.

Sein Debütroman behandelt Themen wie Identität, Zugehörigkeit, Heimat, Einsamkeit und Gemeinschaft, Nähe und Bindung und ist für mich ein frühes Highlight in diesem Lesejahr 2022.

 

Eine weitere Besprechung findet ihr bei Letteratura

Beitragsbild by bryan… (CC BY-SA 2.0) via flickr

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Bryan Washington – Dinge, an die wir nicht glauben.

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Bryan Washington – Dinge, an die wir nicht glauben 
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Kein& Aber August 2021, Hardcover384 Seiten, 25,00 EUR

 

2 Gedanken zu „Bryan Washington – Dinge an die wir nicht glauben

    1. Sehr gern! Freut mich, dich zum Lesen verführt zu haben. Bin gespannt, wie du es finden wirst. Ich war am Anfang etwas skeptisch, da es teilweise recht derb zugeht zwischen den Beiden. Dann aber wieder ganz zarte Passagen kommen. Ein Protagonist, der als Erzieher arbeitet, ist mir auch noch nicht begegnet. Insgesamt ein tolles Buch, viel Freude damit!

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