Thomas Arzt – Die Gegenstimme

Thomas Arzt - Die GegenstimmeThomas Arzt – Die Gegenstimme

Verlagstext:

Soghaft und unmittelbar zieht Arzts Roman uns hinein in den Strudel des Tags, an dem über den „Anschluss“ Österreichs entschieden wurde.

April 1938: Der Student Karl Bleimfeldner kehrt in seinen Heimatort zurück, um gegen den „Anschluss“ an Hitlerdeutschland zu stimmen – als Einziger im Dorf. Die riskante Tat bleibt nicht ohne Folgen im politisch aufgehetzten Landstrich. Gerüchte werden laut. Die Familie verstummt. Eine Handvoll Übermütiger bricht auf, um den Verräter im Wald zu stellen. Wie durch ein Brennglas nimmt Thomas Arzt in „Die Gegenstimme“ die 24 Stunden des 10. April in den Blick, an dem sich die nationalsozialistische Machtübernahme in Österreich vollzog. Vielstimmig und eindringlich schildert er die Geschichte seines eigenen Großonkels – als fieberhaft rastlose Erzählung über Mitläufertum, Feigheit, Ausweglosigkeit, Fanatismus und Widerstand.

 

Meine Meinung:

Thomas Arzts Die Gegenstimme ist eines der Bücher, die ich ohne den Debütpreis glatt übersehen hätte. Und das wäre äußerst bedauerlich gewesen.

Arzt, der bereits ein auch international anerkannter Dramaturg ist, wahrt auch in seinem Debütroman die Einheit von Handlung, Zeit und Raum (nach Aristoteles) und erzählt von einem ganz besonderen Tag, dem 10. April 1938, an dem in einer Volksabstimmung der bereits einen Monat vorher vollzogene „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich „demokratisch“ legitimiert werden sollte. Dass diese „Wahl“ eine Farce war und alles andere als demokratisch verlief, ist allgemein bekannt. Die Gegenstimme macht das auf spannende, beklemmende Weise noch einmal deutlich.

Es ist also Wahlsonntag in einem kleinen oberösterreichischen Dorf und Karl Bleimfeldner, Sohn des Dorfschusters und seit einiger Zeit Geschichtsstudent in Innsbruck, kehrt für die Wahl in die Heimat zurück. Es beginnt alles zunächst recht beschaulich. Das Dorf ist festlich geschmückt und mit Hakenkreuzflaggen übersät, die Dorfgemeinschaft versammelt sich in der Messe (obwohl die Katholischen schon ein wenig misstrauisch beäugt werden) und das kühle Bier steht im Gasthaus bereit. Dorfatmosphäre, die Thomas Arzt mit seiner ganz eigenen, in einem österreichischen Kunstdialekt verfassten Sprache, die häufig ganze Satzteile verschluckt, atmosphärisch gekonnt umsetzt. Das klingt dann zum Beispiel so:

Geht der Bleimfeldner Karl, geht er die Ortstraße hinan, vom Bleimfeldnerhaus, wo der Vater ein Schuster und er schon gar nicht mehr wirklich daheim, weil er doch lang schon fort. Ein Studierter, der Bleimfeldner Karl, aber trägt das Zuhause noch in sich, samt Schustervater und Näherinnenmutter, kleinbürgerlich die Sippschaft allesamt. Ganz bist ja nie weg, auch wennst nimmer da, denkt sich der Karl und spürt so etwas wie eine Verwirrung, erstmals vielleicht.“

Zunächst ungewohnt, liest man sich sehr schnell in diese Sprache ein. Karl ist durch sein Fortgehen und das Studieren ein argwöhnisch und auch ein wenig neidisch beobachteter Außenseiter im Dorf geworden. Als Einziger zieht er sich mit seinem Stimmzettel, der mit einem großen Feld für Ja und einem ganz kleinen für Nein versehen ist, in die Wahlkabine zurück. Was gibt es da zu verbergen? Nicht nur die Propaganda und die in Aussicht gestellten Repressalien für Verweigerer, sondern auch der soziale Druck im Dorf machen etwas anderes als eine Zustimmung zum Anschluss an das Deutsche Reich doch fast unmöglich. Fast protokollarisch, in stetem Wechsel der personalen Perspektive, öffnet Thomas Arzt im Folgenden ein Panorama der Dorfgesellschaft, von der liberalen Arztgattin über den zumindest noch um die Bildung besorgten Lehrer bis zur fanatischen Dorfjugend. Und dann gibt es ja auch noch den etwas zurückgebliebenen Huber Seppl („Der Seppl ist halt der Seppl“). Dabei sind alle seine Figuren trotz der geradezu typischen Konstellationen keine Stereotypen.

Inspiration für die Geschichte war Arzts eigener Großonkel, von dem in der Familie berichtet wurde, er sei der Einzige im Dorf gewesen, der damals mit „Nein“ gestimmt hätte. Das wird auch in vielen Besprechungen genau so übernommen. Die Qualität des Textes zeigt sich aber für mich gerade darin, dass der Autor auch hier eine gewisse Uneindeutigkeit, einen gewissen Zweifel lässt. Schließlich deutet Vieles daraufhin, dass Karl zumindest mit dem Austrofaschismus sehr sympathisiert.

Bis zum Ende der 29 kurzen Kapitel steigt die Spannung und das Buch gewinnt fast Thriller-Qualitäten. Das, zusammen mit dem eigenwilligen Ton und dem gekonnt aufbereiteten historischen Thema, dazu die Aktualität, die Mitläufertum, propagandistische Hetze und Gewalt gegen anders Denkende immer noch besitzt – das alles macht Die Gegenstimme zu einem Roman, den ich nachdrücklich empfehlen möchte.

 

Thomas Arzt – Die Gegenstimme
Residenzverlag Februar 2021, gebunden, 192 Seiten, € 20,00

 

Dieser Text ist Teil meiner Beurteilung und Bewertung zum Bloggerpreis für Literatur Das Debüt 2022. Die Punktebewertung und die Platzierung der Texte folgt am 1. Februar.

Weitere Beiträge dazu von mir:

Ariane Koch – Die Aufdrängung

Jessica Lind – Mama

 

Beitragsbild via Pixabay:

Blogbeiträge anderer Jurymitglieder zu Die Gegenstimme:

Schiefgelesen

Leckerekekse

 

Ein Gedanke zu „Thomas Arzt – Die Gegenstimme

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