Das Debüt 2021 – Bloggerpreis für Literatur – Meine Entscheidung

Bereits zum fünften Mal bin ich dieses Jahr Mitglied der Bloggerjury für „Das Debüt“ – Bloggerpreis für Literatur 2021, der, der Name verrät es, ein besonders gelungenes Debütwerk deutscher Sprache auszeichnen möchte.

Ich sage bewusst „ein besonders gelungenes“ Debüt, weil es meiner Meinung nach weder den besten Debütroman noch den besten Roman welcher Kategorie auch immer geben kann. Die Leseerwartungen und -vorlieben sind doch bei allen Leser*innen sehr unterschiedlich und selbst die herangezogenen „objektiven“ Kriterien unterscheiden sich stark. Selbst der Zeitpunkt und die Umstände des Lesens haben meist einen Einfluss darauf, wie sehr uns der eine oder andere Titel anspricht.

Wer möchte, kann über das Inhaltsverzeichnis oben direkt zur Wertung oder zu den Besprechungen der einzelnen Romane springen.

die shortlist

Hier beim Bloggerpreis für Literatur „Das Debüt“ 2021 ist noch eine zusätzliche Besonderheit eingebaut, die es der Jury einerseits sehr leicht und andererseits sehr schwer macht. Bozena, Sarah und Janine vom Blog „Das Debüt“ lesen sich jedes Jahr durch einen Stapel zum Preis eingereichter Debütromane (dieses Jahr die Rekordzahl von 93) und wählen daraus eine Shortlist, bestehend aus fünf Titeln. Wir Juryblogger haben also eine kleine, feine Auswahl, der wir uns dann in aller Ruhe widmen können.

Das Debüt 2021Hier liegt zugleich Reiz und Schwierigkeit der Arbeit. Manch ein gelesenes Debüt hätte man sich so gern auf der Shortlist gewünscht, manches erhofft, damit man endlich mal zur Lektüre käme. Dann gibt es wieder Titel, die man nicht mochte oder die von Thematik oder Stil so gar nicht passen. Oder – auch das – von denen man bereits Kritiken gelesen hat, die schon vermuten lassen, dass es nicht passen wird.

Sich von all diesen Dingen freizumachen und möglichst unvoreingenommen an die Lektüre zu gehen, ist die Kunst. Dreimal ist es bisher passiert, dass ein absoluter Favorit oder eher eine absolute Favoritin von mir tatsächlich auch gewonnen hat. Das ist besonders schön und war bei Bettina Wilperts sehr überzeugendem Roman „Nichts was uns passiert„, Nadine Schneiders wunderbarem „Drei Kilometer“ und auch bei Deniz Ohde und ihrem Streulicht der Fall.

Das Debüt 2021
„Das Debüt“ – Bloggerpreis für Literatur 2021

In diesem Jahr präsentierte Das Debüt eine sehr spannende Shortlist – zumindest für mich. Keinen der Titel hätte ich auf meine persönliche Leseliste gesetzt, obwohl ich fast allen bereits im vergangenen Jahr begegnet bin. Eines der Bücher war im Frühjahr in aller Munde (Adas Raum) und wurde auch im Debüt-Lesekreis gelesen und durchaus kontrovers besprochen. Eines erhielt im Oktober den Aspekte-Literaturpreis (Die Aufdrängung), ein anderes ist im Herbst auf Instagram sehr präsent gewesen (Mama). Schließlich habe ich an einer sehr interessanten Blogger:innen-Online-Veranstaltung des Diogenes Verlags mit Stefanie vor Schulte und Junge mit schwarzem Hahn teilnehmen dürfen. Nur von Die Gegenstimme hatte ich bislang noch nichts gehört.

Wenn man einen gemeinsamen Nenner für die sehr unterschiedlichen Bücher und Themen finden möchte, dann ist das vielleicht die „Eigenartigkeit“, vllt. sogar „Eigensinnigkeit“, die alle fünf Titel im positiven Sinn besitzen.

Dann ging es ans Lesen, ans Recherchieren, ans Notizen machen. Ein Austausch mit den anderen Jury-Mitgliedern via Zoom war der krönende Abschluss der Jury-Arbeit. Nun blieb nur noch die Verteilung der Punkte (5-3-1) für die drei „Besten“. Ich muss zugeben, das war in diesem Jahr gar nicht so leicht. Eine(n) absoluten Favorit:in wie in den vergangenen Jahren hatte ich bis zum Schluss nicht.

Nun also:

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Meine Wertung:

(wegen Verlinkung zu Verlagsseiten als *Werbung* gekennzeichnet)

 

Sharon Dodua Otoo – Adas Raum

 

Sharon Dodua Otoo Adas RaumVerlagstext:

Der lang erwartete erste Roman der Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo: »Adas Raum« verwebt die Lebensgeschichten vieler Frauen zu einer Reise durch die Jahrhunderte und über Kontinente. Ein überraschender Roman, der davon erzählt, was es bedeutet, Frau zu sein.

Ada erlebt die Ankunft der Portugiesen an der Goldküste des Landes, das einmal Ghana werden wird. Jahrhunderte später wird sie für sich und ihr Baby eine Wohnung in Berlin suchen. In einem Ausstellungskatalog fällt ihr Blick auf ein goldenes Armband, das sie durch die Zeiten und Wandlungen begleitet hat. Ada ist viele Frauen, sie lebt viele Leben. Sie erlebt das Elend, aber auch das Glück, Frau zu sein, sie ist Opfer, leistet Widerstand und kämpft für ihre Unabhängigkeit. Sharon Dodua Otoos Mut und ihre Lust zu erzählen, ihre Neugier, die Vergangenheit und die Gegenwart zu verstehen, machen atemlos.

 

Meine Meinung:

Sharon Doduo Otoos Roman war im Frühjahr 2021 eines der am sehnsüchtigsten erwarteten und meist diskutierten Bücher überhaupt. Erstaunt und teilweise verärgert hatte dann die Tatsache, dass Adas Raum weder für den Leipziger Buchpreis noch für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Viele, viele begeisterte Leser:innen sahen das anders. Für mich persönlich ist das Buch aber leider auch nicht wirklich gelungen. Es scheitert gerade an den großen Ambitionen und der Virtuosität seiner Autorin. Die will mit ihrem Buch viel, ich finde zu viel.

Das Buch umspannt nicht nur knapp 600 Jahre, sondern bündelt eine derartige Vielzahl an Themen und zwar auch so riesige, komplexe wie Kolonialismus, Feminismus, Rassismus, und versucht dann noch, das Ganze hochartifiziell durch einen erzählenden Weltgeist, eine:n meist sehr gut gelaunte:n, aber ein wenig alberne:n, zeitweise berlinernde:n Gott (genderfluid) und diverse durchgehend vorkommende Gegenstände bzw. Motive zu verknüpfen. Das ist kunstvoll gemacht und von der Idee her großartig. Es fehlt ihm aber durchweg das Zwingende.

Der erste, im ghanaischen Totope 1459 spielende Erzählstrang gelingt dabei noch am besten. Hier verliert die erste Ada ihr Baby, hier wird ihr ein Fruchtbarkeitsarmband von einem ersten Wilhelm (hier als portugiesischer Kolonisator Guilhermo) geraubt, der sie dann erschießt. Das Armband taucht im zweiten Teil 1848 im Haus einer zweiten Ada in Stratford-le-bow wieder auf. Dass hier, um die Missachtung und Unterdrückung von Frauen zu thematisieren, die geniale Mathematikerin Ada Lovelace, Tochter von Lord Byron, gewählt wurde, liegt natürlich daran, dass sie in einem von den Männern gern für sich beanspruchten Bereich, der Wissenschaft und hier speziell der Mathematik, brillierte, ohne je die verdiente Anerkennung zu erlangen. Aber ganz passend ist die Wahl nicht, gerade der Mann von Ada Lovelace, William King, hat das Wirken seiner Frau für damalige Verhältnisse noch bemerkenswert gefördert. Hier war es der Autorin wohl wichtiger, bekannte Namen in ihre Geschichte einzubauen, als historische Genauigkeit zu wahren. Auch Charles Dickens, mit dem Ada tatsächlich eine Affäre gehabt haben soll, wird mehr oder weniger wegen seines großen Namens in die Erzählung hineingenötigt, ohne darin eine Funktion erkennen zu lassen. Und dass Ada dann von William aus Eifersucht erschossen wird (anstatt wie historisch richtig an Krebs zu versterben), mag durch literarische Freiheit zwar vielleicht gedeckt sein, zeigt aber das Problem des Romans: alles wird der Konstruktion unterworfen und alles schreit förmlich nach Bedeutung und Wichtigkeit. Am unangenehmsten wurde mir das im dritten Erzählstrang, wo Ada 1945 als Prostituierte im Lagerbordell des KZ Mittelbau-Dora dienen muss. Für mich ist diese Wahl für die Aussagekraft des Buchs überhaupt nicht zwingend. Ich finde sie aufmerksamkeitsheischend und habe mich da sehr unwohl gefühlt. Formulierungen in dem Zusammenhang wie „Leichen, die wie stolze Reichsfahnen im Wind flatterten“ gingen für mich gar nicht.

Die drei Erzählstränge werden in sogenannten „Schleifen“ erzählt und virtuos verknüpft. Da kann man manche Verbindungen und Querverweise entdecken. Das ist klug und wirklich kunstvoll. Über die Wahl von Ada 2 und 3 kann mich das aber nicht hinwegtrösten. Besser wird es dann in Teil zwei, der einer heutigen Ada, einer jungen Schwarzen auf Wohnungssuche in Berlin gewidmet ist. Auch hier taucht beispielsweise das Armband wieder auf und führt ein wenig plakativ auf die Kolonisations- und Raubkunstdebatte hin. Es gibt auch hier einige Plattitüden, aber insgesamt hat mich dieser Teil am meisten überzeugt.

Sprachlich ist der Roman sehr gelungen. Otoo arbeitet oft mit einem spöttischen Humor, der manchmal aber ein wenig albern wirkt.

Insgesamt ist Adas Raum ein vor Ideen sprühender, zu ambitionierter Roman. Alles ein wenig kleiner, hätte er großartig werden können. Der Mut, das Ganze in einen Debütroman zu packen, ist aber auf jeden Fall bewundernswert. Ich bin sehr gespannt auf weitere Veröffentlichungen dieser spannenden Autorin. Mit Adas Raum bin ich allerdings nicht warm geworden.

 

Stefanie vor Schulte – Junge mit schwarzem Hahn

 

Verlagstext:

Ohne Fürsorge und Liebe wächst der 11-jährige Martin am Rande eines Dorfs auf. Er hat nur seinen schwarzen Hahn und wird gemieden von den Dörflern, die das Tier für den Teufel halten. Doch nutzen sie den Jungen aus, wann immer sich die Möglichkeit bietet. Martin jedoch verfügt über ein reines Herz und einen wachen Verstand, der ihn Verbrechen erkennen lässt. Als er mit ansehen muss, wie ein schwarzer Reiter, der der Legende nach jedes Jahr Kinder entführt, ein Mädchen raubt, steht für ihn fest, dass er die verschwundenen Kinder finden und dem Spuk ein Ende setzen muss. Mit dem Maler verlässt Martin sein Dorf und bricht auf zu einer Odyssee, auf der er nicht nur menschlichen Abgründen nachspürt, sondern auch seinen Fähigkeiten.

 

Meine Meinung:

Stefanie vor Schulte hat ein dunkles Märchen für Erwachsene geschrieben und dafür einen ganz eigenen Ton getroffen. Warum ich allerdings als Erwachsene ein Märchen lesen soll, erschließt sich mir leider mit der Lektüre nicht. Ich mochte selbst als Kind keine Märchen: stets die gleichen Handlungsmuster, striktes Schwarz-Weiß, stark simplifizierte Charaktere, kaum etwas rechts oder links vom Gut-Böse-Schema, immer die gleiche Botschaft. Man könnte das natürlich in modernen Märchen abwandeln. Stefanie vor Schulte wählt allerdings das Bewährte. Ein Junge, gut, reinen Herzens, schlau und mutig, ganz auf sich alleine gestellt (die Familie wurde vom Vater mit Ausnahme des damals dreijährigen Martin mit dem Beil erschlagenund in der Dorfgemeinschaftein Außenseiter) sucht nicht nur sein Glück, sondern die Rettung der Welt vor dem Bösen. Seine Welt ist in einem blutigen, gewaltvollen Krieg gefangen. Immer wieder beschwört die Autorin dunkle Bilder.

„Martin hat das Gefühl, im Zentrum allen Leidens, im Zentrum der Siechenden und Trauernden zu sein. Die Leichen tropfen von den Bäumen wie vergorene Äpfel. Sie säumen die Felder zwischen Mohnblumen und Schafgarbe. Die Äcker liegen brach. Der Boden aufgeplatzt und dürr. Ameisen tragen ihre Larven davon.“

So düster und moribund geht es über weite Strecken des Texts. Grauen allerorten, Armut, Hunger, Boshaftigkeit und Verkommenheit. Ja, die Botschaft ist klar, die Welt ist schlecht, die Menschen meistenteils böse. Den Gipfel dieses Bösen stellt die Fürstin dar (Herrje, warum ist wieder eine Frau die Oberschurkin?). Sie lässt von ihren schwarzen Reitern regelmäßig Kinder den Eltern entreißen und in ihr Schloss verbringen. Dorthin macht sich Martin in seiner märchentypischen Mission für das Gute auf, an seiner Seite „der Maler“ – vielleicht die einzige etwas ambivalente Figur -, der in Martins Heimatdorf eigentlich das Altarbild gestalten sollte, und der sprechende schwarze Hahn (der ihm stets auf der Schulter oder vor der Brust sitzt und sein bester Freund und Berater ist). Natürlich wartet daheim ein Mädchen, die Franzi, (das sich zwar auch mal traut, was zu sagen, vor allem aber – natürlich, wir sind in einem Märchen – wunderschön ist und herrlich duftet).

Das ist nun alles andere als innovativ, die Botschaft wie bei allen Märchen gleich (das Gute siegt über das Böse, wenn man nur reinen Herzens ist), selbst die zeitlose, archaische Atmosphäre der Geschichte ist nicht wirklich neu. Ich musste oft an die deutlich kunstvolleren Romane „Schlafes Bruder“ oder „Das finstere Tal“ denken. Positiv ist ein gewisser dezenter Witz, dessen sich die Autorin immer wieder bedient. Die augenzwinkernden Vorgriffe auf die Jetztzeit der Leser:innen finde ich allerdings eher unpassend.

Bleibt die so oft gelobte klare Sprache der Autorin, die tatsächlich passend ist und so manches gelungene Bild, das von der Herkunft vor Schultes von der Bühnen- und Kostümbildnerei zeugen mag, enthält. Mir wurde allerdings diese raunende, unheilvolle, düster-grausame Atmosphäre schnell zu viel. Und da ich mir zudem immer irgendeinen Mehrwert von einem Buch erhoffe, der über das atmosphärisch stimmige, unterhaltsame Lesen oder einen schwammigen Trost hinausgeht, war mir bald klar, dass dieses Buch für mich keinen Punktgewinn bedeutet. Da brauchte es noch nicht einmal das überaus kitschige Ende (klar, wir befinden uns in einem Märchen), das auch die rührende Vorgeschichte der Junge-Hahn-Beziehung und die Hintergründe von Vaters Mordtat aufblättert.

Also, nichts für mich. Wer aber andere Erwartungen an ein Buch hat, kann mit Junge mit schwarzem Hahn durchaus glücklich werden, was viele begeisterte Besprechungen bezeugen.

 

Ariane Koch – Die Aufdrängung

 

Verlagstext:

Eine junge Frau fristet ihr Dasein in einem zu großen Haus in einer zu kleinen Stadt neben einem dreieckigen Berg. Als dort ein Gast auftaucht, nimmt sie ihn kurzerhand bei sich auf. Der Gast ist ihr so vielversprechend neu wie fremd und wird schnell zum einnehmenden Mittelpunkt, aber auch Opfer inquisitorischer Machtfantasien. Bis er den Fängen der zunehmend obsessiven Hausherrin schließlich entkommt und sie selbst, wieder allein, eine lang ersehnte Reise antritt und nun ihrerseits zur Gästin wird.

Die Aufdrängung ist ein wunderbar eigensinnig erzählter Roman, der Fragen nach dem Bekannten und Unbekannten, nach Herkunft und Heimat, nach Assimilation und Integration, nach Privatsphäre und Gastfreundlichkeit stellt. Ein Debüt, dessen Lust am Fabulieren und Fantasieren mitreißt.

 

Meine Meinung:

Was für ein merkwürdiger (im Wortsinn) und eigenartiger (ebenfalls im Wortsinn) Text der bisher mit Theater- und Performancetexten und Hörspielen hervorgetretenen Schweizer Autorin! Auch das Format des schmalen Buchs ist außergewöhnlich für einen literarischen Debütroman, erscheint er doch als Broschur in der kleinformatigen edition surkamp mit einem Schutzumschlag, auf dem sich eine Hand in ein Fell krallt.

Ariane Koch lässt eine Ich-Erzählerin berichten, wie sie einen den ganzen Text hindurch nur als „Gast“ bezeichneten Menschen auf dem Bahnhof trifft und ihn bei sich aufnimmt. Sie lebt nach dem Auszug der Eltern im alten Familienhaus, misstrauisch beäugt von den Geschwistern. Sie bewohnt neun Zimmer, im zehnten lagert eine Armada ausrangierter Staubsauger. Hier bringt sie den Gast unter, der ihr mehr und mehr als Projektionsfläche für eine Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrer Familie dient. Sie erzählt in radikalem Subjektivismus von der Entwicklung ihrer Beziehung zum Gast. Die durchläuft verschiedene Stadien, vom Misstrauen, der Reibung, der Annäherung und letztlich wieder hin zur Entfremdung, und wird in sehr skurrilen Episoden und mit einer abgründigen Komik erzählt. Die Sätze sind präzise und von fast bürokratischer Nüchternheit. Sie funkeln teils vor Klugheit und Absurdität. Den Leser:innen bieten sie eine Fülle von Interpretationsmöglichkeiten. Verweise an Großmeister Kafka, philosophische Fragestellungen, eine Allegorie auf die Entwicklung von Beziehungen, ein Nachdenken über Gastfreundschaft, sogar eine Anspielung auf unsere Überflussgesellschaft, auf Migration und Willkommenskultur oder auch nur das Psychogramm einer Frau, die den Absprung ins Erwachsenenleben noch nicht geschafft hat – da ist vieles möglich, wenn man sich auf den Text einlässt. Man kann sich aber auch einfach an den teils grandiosen Sätzen und ihrer Absurdität erfreuen.

Mir hat Die Aufdrängung zumindest viel Spaß gemacht. Und sie lädt zur Relektüre ein, um wieder andere Aspekte des Textes zu erfassen. Die Aufdrängung ist ein Buch, mit dem man sich trotz seines geringen Umfangs lange beschäftigen kann.

Deshalb erhält Ariane Kochs Text von mir den dritten Platz und damit 1 Punkt.

 

 

Jessica Lind – Mama

 

Verlagstext:

Amira wünscht sich ein Kind. Als sie schwanger wird, gesellen sich Ängste und Sorgen zu ihrer Vorfreude. Wie wird sie die Mutterschaft verändern? Ein Ausflug zur abgelegenen Waldhütte ihres Partners Josef bringt nicht die ersehnte Entspannung: Rätselhafte Begegnungen häufen sich, Raum und Zeit scheinen außer Kraft und Amira weiß nicht, ob sie ihrer Wahrnehmung noch trauen kann. Was ist Traum, was Realität? Zwischen tiefer Verunsicherung und inniger Mutterliebe beginnt ein Ringen um Selbstbehauptung und Unabhängigkeit – denn der Wald scheint seine Gäste ungern wieder freizugeben …

Jessica Lind wandelt in ihrem Debütroman stilsicher zwischen den Genrewelten. Was als klassische Beziehungsgeschichte beginnt, entfaltet Seite für Seite einen subtilen Horror. Lind taucht tief in die Psychologie der Protagonistin ein, spielt souverän mit dem Unheimlichen und entwickelt eine erzählerische Sogwirkung, die niemanden unberührt lässt.

 

Meine Meinung:

Die österreichische Drehbuchautorin und Dramaturgin Jessica Lind erzählt in ihrem Debütroman von Amira und Josef, einem Paar das zunächst ein Kind möchte, dann erwartet, bekommt und schließlich mit ihm lebt. Vier Stadien der Elternwerdung, genauer gesagt des Mutterseins, denn erzählt wird aus der personalen Perspektive von Amira. Jessica Lind verlagert das Geschehen in allen vier kurzen Episoden in ein kleines Ferienhaus mitten im Wald. Hier hat ihr Partner bereits die Kindheitsferien verbracht, hier ist irgendwann dessen Vater von sich von einem Anhänger lösenden Baumstämmen erschlagen worden. Der Wald hat stets etwas sowohl Beschützendes als auch Bedrohliches an sich. Geschickt baut Jessica Lind sanften Horror und unaufdringlich Magisches in ihren Text ein – Stilmittel, die ich eigentlich gar nicht schätze, die die Autorin aber äußerst gekonnt platziert. Die zunehmend unheimliche Atmosphäre, das Unwirkliche werden immer wieder durch die Realität gebrochen.

Zum ersten Mal besuchen Amira und Josef die Hütte, um zu entspannen. Der Kinderwunsch scheint schon eine Weile unerfüllt geblieben zu sein, ob Josef ihn noch wirklich verfolgt, ist unsicher. Doch Amira hat gerade ihren Eisprung, sie möchte diese Schwangerschaft unbedingt. Und tatsächlich, auf einer romantischen Lichtung im Wald wird sie schwanger. Im zweiten Teil suchen die werdenden Eltern das Haus im Wald auf, um kurz vor der Entbindung noch einmal Zeit zu Zweit zu verbringen. Hier treten Ängste und Erwartungen an Schwangerschaft und Geburt zutage, die auch von außen an Amira herangetragen werden. Unheimlich-bedrohliche Motive aus dem ersten Teil wie die freilaufende Hündin oder der mysteriöse Wanderer, der Josefs Vater so ähnlich sieht, werden wiederaufgenommen. Zeiten und Realitäten vermischen sich, es wird teils surreal, immer bieten sich den Leser:innen aber auch scheinbar logische Erklärungen an. Hier geschieht auch der erste Zeitsprung. Diese Zeitsprünge sind ein typisches Kennzeichen des Textes. Sie verdeutlichen für mich die unterschiedlichen Zeit-Erfahrungen in Schwangerschaft und ersten Babyjahren und zugleich die zeitweise Selbstentfremdung, die Müttern dort widerfährt. Das ist äußerst geschickt gemacht und bietet unzählige Interpretationsmöglichkeiten. Der Zauber, aber auch das Erschrecken, das eine erste Geburt auslöst, Erwartungen der Gesellschaft und des Partners, eigene Träume und Ängste, Einengung, Überforderung und Selbstentfremdung, Krise der Partnerschaft, der Drang zu Überbehütung und andererseits Freiheitsdrang – es ist verblüffend, wie treffsicher, komprimiert und interpretationsoffen Jessica Lind das alles in ihren Text einbindet und zeigt, wie sich in den einzelnen Phasen das Verhältnis Amiras zu sich selbst und ihrer Umgebung wandelt, wie sich die Mutter-Kind-Symbiose bildet, wandelt und vielleicht auch auflöst. Geschrieben ist der vielschichtige und komplexe Roman in einer klaren, zarten Prosa, die der im Text innewohnenden Unruhe scheinbar entgegensteht.

Ein wirklich erstaunliches Debüt. Von mir deshalb Platz 2 und 3 Punkte.

 

Thomas Arzt – Die Gegenstimme

 

Verlagstext:

Soghaft und unmittelbar zieht Arzts Roman uns hinein in den Strudel des Tags, an dem über den „Anschluss“ Österreichs entschieden wurde.

April 1938: Der Student Karl Bleimfeldner kehrt in seinen Heimatort zurück, um gegen den „Anschluss“ an Hitlerdeutschland zu stimmen – als Einziger im Dorf. Die riskante Tat bleibt nicht ohne Folgen im politisch aufgehetzten Landstrich. Gerüchte werden laut. Die Familie verstummt. Eine Handvoll Übermütiger bricht auf, um den Verräter im Wald zu stellen. Wie durch ein Brennglas nimmt Thomas Arzt in „Die Gegenstimme“ die 24 Stunden des 10. April in den Blick, an dem sich die nationalsozialistische Machtübernahme in Österreich vollzog. Vielstimmig und eindringlich schildert er die Geschichte seines eigenen Großonkels – als fieberhaft rastlose Erzählung über Mitläufertum, Feigheit, Ausweglosigkeit, Fanatismus und Widerstand.

 

Meine Meinung:

Thomas Arzts Die Gegenstimme ist eines der Bücher, die ich ohne den Debütpreis glatt übersehen hätte. Und das wäre äußerst bedauerlich gewesen.

Arzt, der bereits ein auch international anerkannter Dramaturg ist, wahrt auch in seinem Debütroman die Einheit von Handlung, Zeit und Raum (nach Aristoteles) und erzählt von einem ganz besonderen Tag, dem 10. April 1938, an dem in einer Volksabstimmung der bereits einen Monat vorher vollzogene „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich „demokratisch“ legitimiert werden sollte. Dass diese „Wahl“ eine Farce war und alles andere als demokratisch verlief, ist allgemein bekannt. Die Gegenstimme macht das auf spannende, beklemmende Weise noch einmal deutlich.

Es ist also Wahlsonntag in einem kleinen oberösterreichischen Dorf und Karl Bleimfeldner, Sohn des Dorfschusters und seit einiger Zeit Geschichtsstudent in Innsbruck, kehrt für die Wahl in die Heimat zurück. Es beginnt alles zunächst recht beschaulich. Das Dorf ist festlich geschmückt und mit Hakenkreuzflaggen übersät, die Dorfgemeinschaft versammelt sich in der Messe (obwohl die Katholischen schon ein wenig misstrauisch beäugt werden) und das kühle Bier steht im Gasthaus bereit. Dorfatmosphäre, die Thomas Arzt mit seiner ganz eigenen, in einem österreichischen Kunstdialekt verfassten Sprache, die häufig ganze Satzteile verschluckt, atmosphärisch gekonnt umsetzt. Das klingt dann zum Beispiel so:

Geht der Bleimfeldner Karl, geht er die Ortstraße hinan, vom Bleimfeldnerhaus, wo der Vater ein Schuster und er schon gar nicht mehr wirklich daheim, weil er doch lang schon fort. Ein Studierter, der Bleimfeldner Karl, aber trägt das Zuhause noch in sich, samt Schustervater und Näherinnenmutter, kleinbürgerlich die Sippschaft allesamt. Ganz bist ja nie weg, auch wennst nimmer da, denkt sich der Karl und spürt so etwas wie eine Verwirrung, erstmals vielleicht.“

Zunächst ungewohnt, liest man sich sehr schnell in diese Sprache ein. Karl ist durch sein Fortgehen und das Studieren ein argwöhnisch und auch ein wenig neidisch beobachteter Außenseiter im Dorf geworden. Als Einziger zieht er sich mit seinem Stimmzettel, der mit einem großen Feld für Ja und einem ganz kleinen für Nein versehen ist, in die Wahlkabine zurück. Was gibt es da zu verbergen? Nicht nur die Propaganda und die in Aussicht gestellten Repressalien für Verweigerer, sondern auch der soziale Druck im Dorf machen etwas anderes als eine Zustimmung zum Anschluss an das Deutsche Reich doch fast unmöglich. Fast protokollarisch, in stetem Wechsel der personalen Perspektive, öffnet Thomas Arzt im Folgenden ein Panorama der Dorfgesellschaft, von der liberalen Arztgattin über den zumindest noch um die Bildung besorgten Lehrer bis zur fanatischen Dorfjugend. Und dann gibt es ja auch noch den etwas zurückgebliebenen Huber Seppl („Der Seppl ist halt der Seppl“). Dabei sind alle seine Figuren trotz der geradezu typischen Konstellationen keine Stereotypen.

Inspiration für die Geschichte war Arzts eigener Großonkel, von dem in der Familie berichtet wurde, er sei der Einzige im Dorf gewesen, der damals mit „Nein“ gestimmt hätte. Das wird auch in vielen Besprechungen genau so übernommen. Die Qualität des Textes zeigt sich aber für mich gerade darin, dass der Autor auch hier eine gewisse Uneindeutigkeit, einen gewissen Zweifel lässt. Schließlich deutet Vieles daraufhin, dass Karl zumindest mit dem Austrofaschismus sehr sympathisiert.

Bis zum Ende der 29 kurzen Kapitel steigt die Spannung und das Buch gewinnt fast Thriller-Qualitäten. Das, zusammen mit dem eigenwilligen Ton und dem gekonnt aufbereiteten historischen Thema, die Aktualität, die Mitläufertum, propagandistische Hetze und Gewalt gegen anders Denkende immer noch besitzt, macht Die Gegenstimme zu dem Roman, der mich dann letztendlich doch am meisten begeisterte.

Deshalb Platz 1 und 5 Punkte.

 

Ich möchte noch einmal betonen, dass mir die Platzierungen dieses Jahr besonders schwer gefallen sind. Zwischen Platz 1 und 2 liegt nur ein Hauch und entschieden habe ich mich tatsächlich erst beim Verfassen dieses Beitrags. Sowohl Mama als auch Die Gegenstimme hätten den Preis absolut verdient. Und auch Die Aufdrängung ist ein ganz besonderes, beachtenswertes Buch. Am besten wäre sowieso: Lest alle fünf Kandidaten und macht euch selbst ein Bild! (Über Kommentare freue ich mich sehr, auch im Nachgang).

 

Entscheidungen anderer Jury-Mitglieder:

Marc – Lesen macht Glücklich

Marion – Schiefgelesen

Ines – Letteratura

Silvia – Leckerekekse

Mikka – Mikka liest

Eva – Literaturgeflüster

Sebastian – Auf ein Buch (Instagram)

Patrick – Buch und Bühne (Intagram)

Sabine – Sabine Gelsing (Instagram)

 

Siegerin

 

Die Entscheidung ist gefallen!

Der Literaturpreis für Blogger:innen Das Debüt 2021 geht an:

Jessica Lind mit Mama 

Ganz herzliche Glückwünsche!!!

Ein Gedanke zu „Das Debüt 2021 – Bloggerpreis für Literatur – Meine Entscheidung

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