Said al-Wahid, ein deutsch-irakischer Schriftsteller, kehrt im Sommer 2014 von einer erfolgreichen Podiumsdiskussion in Mainz zu seiner Frau Monica und dem kleinen Sohn Ilias nach Berlin zurück. Im ICE erreicht ihn der Anruf seines Bruders Hakim aus Bagdad: Die Mutter liege im Sterben, wenn er sie noch einmal sehen wolle, sei Eile geboten. So beginnt der neue, schmale Roman des deutschen, in Bagdad geborenen Autors Abbas Khider, Der Erinnerungsfälscher.
Etliche biografische Eckpunkte teilen sich Said und Abbas, aber das Buch ist ein literarisches Werk, wichtige Details stimmen nicht überein. So erzählt Khider im Deutschlandfunk-Interview, dass er oft auf seinen früh verstorbenen Vater angesprochen würde; der eigene hingegen sei 90 Jahre alt geworden. Überhaupt ist Der Erinnerungsfälscher ein Buch, in dem sich Abbas Khider mit der Unzuverlässigkeit von Erinnerungen beschäftigt. Sein Protagonist leidet unter erheblichen Gedächtnislücken, manche Ereignisse aus seinem Leben sind wie ausgelöscht, manche Rückblicke sind so schmerzlich, dass er sie aussperrt. Anderes wiederum erfindet er hinzu, manchmal gern in verschiedenen Versionen (von denen er die eine oder andere auch wieder vergisst). Erinnerungsverfälschung nennt sich das im Fachjargon.
Traumatische Erinnerungen
Said al-Wahid hat allen Grund, seine Erinnerungen zu verfälschen, denn sie sind traumatisch. Als der Junge acht Jahre alt war, wurde sein Vater, ein Staatsbeamter, von den an die Macht gelangten Getreuen Saddam Husseins hingerichtet. Er selbst wurde als junger Mann mehrere Male verhaftet und im Gefängnis gefoltert. Etwas, das Said wiederum mit seinem Autor gemeinsam hat. Schließlich gelang ihm die Flucht über Jordanien, Ägypten und Griechenland nach Deutschland, wo er Asyl beantragte. An diese Stationen sowie an die schwierige Integration erinnert er sich während er einen Flug nach Bagdad bucht und von Frankfurt aus die Reise über Doha antritt.
Es sind Erinnerungssplitter an Menschen, Begegnungen, Ereignisse – in Deutschland und im Irak. Dieser versinkt nach Beendigung der Diktatur Saddam Husseins ins von Said so genannte „Chaos der amerikanischen Soldaten“ und wurde von einem „Loch der Verzweiflung“ zu einem „Loch der Hoffnungslosigkeit“. Dschihadisten, Milizen, der IS errichteten ein Terrorregime, das Land verrohte.
„Es war kompliziert und unübersichtlich. Gott selbst war bewaffnet.“
Dank seiner deutschen Staatsbürgerschaft kommt Said 2014 unbeschadet in Bagdad an, aber seine Mutter ist wenige Stunden zuvor gestorben. Alles wirkt weniger chaotisch als bei den zwei Besuchen zuvor und die Familie begrüßt ihn herzlich. Said merkt aber, dass der Irak nicht mehr sein Land ist, dass er ein „europäischer Orientalist“ geworden ist, der vom Schlafen auf dem Dach unter den Sternen träumt, während sich in der Realität Milizen und Sicherheitskräfte nachts bekämpfen.
Intensiv
Abbas Khider erzählt seine Geschichte vom Erinnerungsfälscher schlicht, mit einer gewissen Distanz, nur selten kommt ein wenig Pathos oder Poesie auf. Auch der Khider-typische sarkastische Humor ist in diesem Buch seltener anzutreffen. Es ist ein neuer Versuch, Erinnerungen schreibend neu zu erfinden und dadurch vielleicht ein wenig erträglicher zu machen.
„Erstaunlicherweise findet Said Al-Wahid das Erinnern nicht mehr anstrengend, seitdem er es erfindet.“
Ein schmales, aber sehr intensives Buch.
Eine weitere Besprechung findet ihr auf Kulturgeschwätz
Beitragsbild via Pixabay
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Abbas Khider – Der Erinnerungsfälscher
Hanser Verlag Januar 2022, Fester Einband, 128 Seiten, 19,00 €
Hi Petra,
danke für dein Mini-Rezension. Das hört sich interessant an, zumal wir doch alle Erinnerungsfälscher sind. Wir lieben distanzierte Erzählungen.
Alles Gute
The Fab Four of Cley
🙂 🙂 🙂 🙂
Sehr gern. Das Buch ist sehr zu empfehlen. Nur ca. 125 Seiten stark, aber sehr dicht. Viele Grüße!