Monika Helfer schreibt seit den 1970er Jahren Prosa. In den letzten Jahren gelang der 1947 geborenen Österreicherin der ganz große Durchbruch mit ihren schmalen Romanen über die eigene Familiengeschichte. Die Bagage wurde gleich ein riesengroßer Erfolg bei Kritik und Publikum, der zweite Band, Vati, stand dann auch verdientermaßen endlich auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Nun beschäftigt sich Monika Helfer in Löwenherz mit ihrem sechs Jahre jüngeren Bruder Richard.
Dass dieser Richard eigenwillig war, versponnen, tagträumend und sich mit dreißig Jahren das Leben nahm, erzählt uns die Autorin bereits auf der ersten Seite.
„Mein Bruder hatte den ganzen Tag den Himmel in den Augen, und wenn die Blindschleiche dabei von seinem Arm fiel, kümmerte er sich nicht weiter um sie – jedem sein eigenes Durchkommen, ob Tier oder Mensch.“
Schamasch und Putzi
Irgendwie liebenswert, aber auch sehr egozentrisch, fast ein wenig empathielos. Gleich auf der folgenden Seite taucht aber eines der Wesen auf, die für Richard alles bedeuten sollen, denen er sich fortan rührend widmet. Es ist ein struppiger, herrenloser Hund, den er Schamasch nennt, und der ihm fortan nicht mehr von der Seite weicht. Das zweite ist das kleine Mädchen Putzi. Dessen Mutter rettet Richard eines Tages in den 1970er Jahren bei einer seiner gedankenlosen Aktionen das Leben, indem sie ihn aus dem Bodensee zieht. Zuvor war er mit einer durchgerosteten Badewanne losgefahren, ohne schwimmen zu können.
Diese „Lebensretterin“ Kitti ist eine absolut verrückte Person, und zwar nicht im positiven Sinn. Sie wird Richards Leben gehörig durcheinanderwirbeln. Fortgeschritten schwanger, verpflichtet sie Richard als Preis für die Rettung, während ihrer Entbindung ein paar Tage auf Putzi aufzupassen, holt das Kind aber dann wochenlang nicht ab. Putzi nennt Richard gleich „Papa“ und mit den Beiden und Schamasch klappt es ganz wunderbar. Schon bald lieben sie sich heiß und innig und Richard gibt einen zwar sehr unkonventionellen, aber ganz rührenden „Vater“ ab. Die Beziehung zwischen Richard und Monika Helfer und ihrem damaligen Geliebten Michael (Köhlmeier) ist zu dieser Zeit recht eng. Monika passt oft auf Putzi auf, wenn Richard sie mal nicht mit in die Fabrik, in der er als Schriftsetzer arbeitet, mitnehmen kann. Er und Michael werden Freunde.
Es klingt unwahrscheinlich, aber die Sache geht lange gut. Richard, der „Schmähtandler“, erzählt dem Wickelkind Geschichten, bringt ihm Buchstaben bei, streift mit ihm durch die Natur. Eine glückliche „Familie“. Ohne dass man es wirklich begreift, verliebt sich dann die erfolgreiche Wirtschaftsanwältin Tanja in Richard, die Beiden heiraten sogar. Aber das Ganze ist eine fragile Angelegenheit. Ist es der Tod von Schamasch? Oder der letztendliche Verlust von Putzi? Oder ist es etwas tiefer liegendes, in der Kindheit von Richard begründetes, was ihn dann aus der Bahn wirft?
Die Bagage
Die Leser:innen von Monika Helfer kennen die tragischen Familiengeschichte, den frühen Tod der Mutter, den verzweifelten Vater, der sich ins Kloster zurückzieht, die Trennung der Geschwister, Richard bei der ungeliebten einen, die drei Schwestern bei der anderen Tante. Die körperlichen Einschränkungen durch ein Rachitisleiden in der Kindheit. Monika Helfer fasst sie in Löwenherz nochmals kurz zusammen. Doch mehr zu wissen, maßt sie sich nicht an. Sie tastet sich im Text vorsichtig an den Bruder heran, versucht zu verstehen, wie dieser dachte und fühlte. Mehrmals betont sie, dass „der Michael“ ihn vielleicht sogar besser gekannt hat als sie selbst. Dieser meint:
„Ich weiß niemanden, dem das Leben so wenig wichtig war wie dem Richard.“
Immer wieder zieht Monika Helfer ihren Mann Michael Köhlmeier zum Zeugen heran. Gleichzeitig bespricht sie mit ihm das Geschriebene, vergewissert sich bei Erinnerungen. Denn dass diese unzuverlässig sind, dass weiß jede(r) Autor*in autofiktionaler Texte. Ein wenig ist der Text vielleicht auch eine Selbstvergewisserung, darüber, wie sie zu ihrem Bruder stand, und darüber, welche Rolle sie in seinem Leben noch hätte spielen können. Denn die Beziehung lockerte sich, man sah sich nur noch selten, hörte nur ab und zu voneinander.
Mit Löwenherz schafft Monika Helfer ihrem Bruder Richard, diesem eigensinnigen, sanften, widersprüchlichen, fantasievollen Menschen, diesem Schöpfer farbenfroher naiver Malerei und Schmähtandler, ein dichtes und zauberhaftes Porträt. Es schließt mit einem wunderbaren Wort, das die Autorin ihrem Bruder am Ende widmet: „Schlafesruh.“
Eine weitere Besprechung findet ihr im Bücheratlas
Beitragsbild by Franz Jachim (CC BY-NC-ND 2.0) via Flickr
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Monika Helfer – Löwenherz
Hanser Verlag Januar 2022, Fester Einband, 192 Seiten, € 20,00