Lea Draeger – Wenn ich euch verraten könnte

 

Zitat Lea Draeger – Wenn ich euch verraten könnte

„Als mein Großvater zwölf Jahre alt war, erhängte sich mein Urgroßvater am Deckenbalken seiner Backstube mit einer Hundeleine.“

Wenn ein Buch mit einem solchen Satz beginnt, ist eigentlich schon klar, dass hier keine Wohlfühllektüre wartet. Der Verlag liefert zudem noch eine Triggerwarnung zu „expliziten Schilderungen psychischer und physischer Gewalt“, etwas dem ich eher unentschlossen-skeptisch gegenüberstehe, was ich hier aber angesichts des wirklich heftigen Inhalts und des jugendlichen Alters der Protagonistin, die gerade für jüngere Leser:innen hohes Identifikationspotential bieten könnte, absolut begrüße. Lea Draeger hat mit Wenn ich euch verraten könnte kein Jugendbuch geschrieben, aber hanserblau ist ja ein Programm, das auch eine etwas jüngere Leserschaft anspricht.

In der Psychiatrie

Die namenlose Ich-Erzählerin in mit Wenn ich euch verraten könnte  ist dreizehn Jahre alt und befindet sich zu Beginn des Romans bereits in der Jugendpsychiatrie. Schon sehr bald wird klar, dass sie unter einer schweren Essstörung leidet, stark abgemagert ist und zwangsernährt wird. In vielen kurzen 0-Kapiteln wird von ihrem Aufenthalt im Krankenhaus, der Therapie, den Mitpatient:innen, den Fort- und den Rückschritten erzählt. Dazwischen gestreut sind ebenso kurze Kapitel, die über die Familie der Ich-Erzählerin berichten, teils entstanden solche Aufzeichnungen bereits in der Klinik in einem kleinen Notizbuch. Ihr Aufschreiben ist ein Versuch, mit der Situation klarzukommen, aber auch eine Form der Selbstermächtigung. Denn ihr Weg ist sonst das Schweigen. Schweigen gegenüber den behandelnden Ärzten, den Gleichaltrigen, so wie es in ihrer Familie üblich war.

„Ehe ich aufhörte zu essen, habe ich aufgehört, mit meiner Mutter zu sprechen. Über ein Jahr habe ich nicht mit ihr gesprochen. Auch sonst spreche ich nicht gern. Ich traue der Sprache nicht.“

Diese Familie hat es in sich. Welches Trauma der Großvater als Kind erlitt, verrät uns, wie gesagt, bereits der erste Satz. Wie erfolglos der Großvater es verarbeitete, wie er Lieblosigkeit, Strenge und Gewalt, vor allem aber auch die Misogynie, der seine aufopferungsvolle Mutter ausgesetzt war, weiter perpetuierte und seinerseits die Familie zum Ort des Schreckens machte – davon erzählen die Aufzeichnungen.

Der Vater

Es ist vom Großvater immer nur als „der Vater“ die Rede. Unter ihm zu leiden hatten vor allem die Großmutter Magda, von der Ich-Erzählerin „Mutter Magda Märtyrerin“ genannt, und die Tante Vĕra, während die Mutter eher mit Nichtbeachtung gestraft wurde. Die Großmutter war aber nicht nur Opfer. Sie stellte sich nie schützend vor ihre Töchter, ihre bittere Boshaftigkeit und Stenge ist auch noch bei der alten Frau zu spüren. Geflüchtet hat sie sich in einen rigiden Katholizismus, inklusive achtundsiebzig Postkarten von „Heiliginnen“, Papstbild und jährlicher Fahrt mit dem „Katholikenbus“ nach Lourdes.

Einst waren sie und der Großvater, die beide aus Prag stammen, wegen der Religion durch die kommunistische Regierung der Tschechoslowakei drangsaliert worden, der Großvater durfte seinen Beruf nicht mehr ausüben. Eigentlich war er „Schriftsteller“, er arbeitete stets an „seinem Werk“, seiner Autobiografie, die nie veröffentlicht wurde. Er war am Ende genauso gescheitert wie der Urgroßvater, der strenge, fast taube Bäckermeister, der sich das Leben nahm. Beides eigentlich schwache Menschen, die ihr Scheitern mit patriarchaler Strenge und familiärer Gewalt kompensieren wollten. Es ist ein großes Können der Autorin, dass sie ihre Figuren nie Schwarz-Weiß malt, sondern auch den schlimmsten Drangsalierern ein Stück Verständnis, wenn auch nicht Verzeihen entgegenbringt. Und auch die Frauenfiguren sind höchst ambivalent, sind so verletzend wie stark.

Das Land, das uns verraten hat

1968 flüchtete die Familie mit den Töchtern nach Deutschland. Die Sprache und das Essen bleiben das Einzige, was sie noch mit der alten Heimat verbindet. Die Tschechoslowakei wird zum „Land, das uns verraten hat“, mit der dort zurückbleibenden Familie wird gebrochen, alle Versuche der Töchter, dort wieder anzuknüpfen, werden rabiat unterbunden. Alles „Kommunistenschweine“. Aus diesem strikten Dualismus, Gut-Böse, finden sie keinen Ausweg. Ansonsten wird geschwiegen. Dabei merkt man, dass die Mutter an ihrer Herkunft hängt. Die Tochter, die das Tschechische nie gelernt hat, spürt, dass die sonst so distanzierte, ja harte Frau, weicher wird, eine „andere, weichere Mutter“. Ein wenig merkt sie es auch, wenn die Mutter tschechische Speisen kocht.

„Ich hasse sie alle dafür, dass sie in Deutschland nie in ihrer Sprache sprechen wollten. Dass sie mich nie in die Seele meiner Familie hineingelassen haben.“

Ihren Eltern konnte es die Mutter nie recht machen. Das Studium hat sie abgebrochen, und auch den falschen Mann geheiratet, „nur“ einen Lehrer. Die Großmutter straft ihre Tochter, die es „zu nichts gebracht hat“, mit bitterer Verachtung. Leider gibt auch diese ihr Unglück an ihre beiden Töchter weiter, lässt keine wirkliche Nähe zu.

„Ich hatte mich immer gewundert, dass meine Mutter meine Mutter ist.“

Gift und Unglück

Es steckt so viel Gift und Unglück in dieser Familie, dass die tiefgreifenden Verstörungen bei den Enkelinnen wenig verwundern. Die Schwester isst zu viel, die Ich-Erzählerin wird magersüchtig. Schweigen und Hungern erscheinen ihr vielleicht als ein Weg, sich von dem Gift der Familie zu befreien. Oder auch überhaupt gesehen zu werden.

„Mir ist die Sprache fremd. Und alles andere: meine Mutter, meine Familie, die Häuserzeilen, die Nachbarn, das Land, mein Körper, ich bin mir fremd. Seit ich mich erinnern kann, bin ich fremd. Ich bin eine Fremde, die man nicht sieht.“

Als ihr Zustand lebensbedrohlich wird, landet sie in der Psychiatrie. Dort gibt es Fortschritte, sie findet in Gretel eine Freundin, die ihr letztendlich aber auch nicht gut tut. Es gibt überhaupt wenig Hoffnung in diesem Buch, es ist von einer fast gnadenlosen Düsternis. Und doch, in der Coda, die dem Text nachgestellt ist, geht ein kleiner Vorhang auf und lässt ein wenig Licht hinein. Durch das Aufschreiben, durch die Eroberung der Domäne des Großvaters, ermächtigt sich die Erzählerin selbst und all die Frauen ihrer Familie vor ihr. Zumindest ein Stück weit.

„Es gibt keine Geschichten über meine tschechische Familie. Es gibt keine Geschichten, die von den Frauen meiner Familie geschrieben wurden. Es gibt nur die Geschichte, die der Vater geschrieben hat. Mein Großvater war Schriftsteller.“

Die Frauen

Es gibt ein kleines Kapitel, das „Über die Wut der Frauen“ betitelt ist. Darin heißt es:

„Wenn meine Großmutter Magda als Kind wütend gewesen war, was sie sehr selten zeigte, erklärte ihr meine Urgroßmutter, dass ihre Wut sie hässlich macht. Dasselbe erklärte meine Großmutter meiner Mutter, und meine Mutter erklärte es mir. (…) Die Wut macht uns Frauen hässlich. Jedenfalls lernten wir das so.“

Wir lernen das noch immer. Glücklicherweise hat die Ich-Erzählerin von Lea Draeger einen Ausweg im Erzählen und Benennen gefunden.

„Irgendwo ist da Wut. Sehr viel Wut. Eine Wut, die es schon lange in uns gibt. Sie stand im Körper meiner Großmutter, im Körper meiner Mutter, sie steht in meinem Körper. Doch haben wir versucht, sie wegzudrücken. Ich will mir meine Wut nicht nehmen lassen.“

 

„Ich werde sie finden, meine Geschichte. Auch wenn ich uns verraten muss.“

 

Beitragsbild via Pixabay

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Lea Draeger - Wenn ich euch verraten könnte.

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Lea Draeger – Wenn ich euch verraten könnte
hanserblau Januar 2022, Fester Einband, 288 Seiten, € 23,00

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