Es fällt schwer, im Moment über so etwas Belangloses wie vergangene Lektüren zu schreiben. Es geht so vieles im Kopf herum, ich hatte so sehr auf einen etwas sorgloseren Frühling gehofft. Die Absage der Leipziger Buchmesse war schon kein sehr positives Signal, aber die Entschlossenheit und der Aufbruchswille eines Teils der Literaturlandschaft hat aber danach sehr beeindruckt. Ein alternatives und schönes Literaturevent im März in Leipzig scheint nun doch möglich. Die ersten richtigen Vorfrühlingstage sind da. Und dann das Unvorstellbare! Furchtbare Nachrichten überschlagen sich. Das Lesen ist für mich immer noch Rückzugsort. Das darüber Schreiben wird aber schwieriger. Mal schauen, wie sich das entwickelt. Ein Großteil der Lektüre im Februar 2022 war ja schon gelesen und die Bewertungen getippt. Und es waren wirklich schöne Bücher dabei.
Tschingis Aitmatow/Kat Menschik – Djamila
Als ich Tschingis Aitmatows Novelle, die vielgepriesene und weltbekannt gewordene, 1958 als Abschlussarbeit am Literaturinstitut entstandene und von ihrem französischen Übersetzer Louis Aragon prägend als „die schönste Liebesgeschichte der Welt“ betitelte Geschichte, als Jugendliche zum ersten Mal gelesen habe, blieb sie mir einigermaßen fremd. Zumindest konnte ich das hochtrabende Lob nicht recht nachvollziehen. Erst der 1986 erschienene Roman Aitmatows Der Richtplatz hat mir gezeigt, was für ein toller Autor der Kirgise Aitmatow ist. Nun erscheint in der wunderbaren Reihe der von Kat Menschik illustrierten Lieblingslektüren die berühmte Geschichte neu, in der bewährten Übersetzung von Gisela Drohla. Gleich verliebt man sich in die in gedeckten Blau- und Gelbtönen gehaltenen Illustrationen von Kat Menschik, die oft ganz nah an ihre Motive herangehen, an Gesichter, Hände, Pflanzen und immer wieder an das Korn, das im Sommer 1943 in dem kleinen kirgisischen Dorf geerntet wird und so sinnlich für diese Jahreszeit steht.
Es ist eine verbotene, eine eigentlich unmögliche Liebesgeschichte in einer schrecklichen Zeit, die aber in die grandiose Natur Kirgisiens noch nicht vorgedrungen ist. Die Kornernte steht an wie jedes Jahr, nur der versehrte Kriegsheimkehrer Danijar zeugt von den Kämpfen, die anderswo toben. Er ist ein Träumer und singt wunderschön. Zwischen ihm und der jungen Djamila knüpfen sich zarte, verbotene Bande, denn Djamilas Mann Sadyk ist an der Front. Beobachtet und erzählt wird vom 15jährigen Bruder Sadyks, den es dennoch auch sehr zu Danijar hinzieht, erweckt dieser durch seine künstlerische Art doch auch seine Leidenschaft fürs Malen. Eine zarte, wirklich wunderschöne, durch ihre Traditionen und die raue Schönheit der Natur transportierende Art wirklich zauberhafte Erzählung. Jedes Buch braucht seine Zeit. Gut, dass die großartige Reihe von Kat Menschik illustrierter Bücher mir diese Perle noch einmal vorgelegt hat. Und gut, dass die Lektüre vor dem Angriffskrieg Putins lag, denn sonst hätte ich vielleicht nicht zu einem Werk eines sehr staatsnahen Autors gegriffen, auch wenn der schon 2008 verstarb.
Abbas Khider – Der Erinnerungsfälscher
Der in Deutschland lebende Said al-Wahid hat allen Grund, seine Erinnerungen zu verfälschen, denn sie sind traumatisch. Als der Junge acht Jahre alt war, wurde sein Vater, ein irakischer Staatsbeamter, von den an die Macht gelangten Getreuen Saddam Husseins hingerichtet. Er selbst wurde als junger Mann mehrere Male verhaftet und im Gefängnis gefoltert. Schließlich gelang ihm die Flucht über Jordanien, Ägypten und Griechenland nach Deutschland, wo er Asyl beantragte und mit seiner Familie nun als Schriftsteller in Berlin lebt. Vieles davon hat Said al- Wahid mit seinem Autor Abbas Khider gemeinsam.
An die Stationen seiner Flucht sowie an die schwierige Integration erinnert er sich, während er zu seiner im Sterben liegenden Mutter nach Bagdad reist.
Abbas Khider erzählt seine Geschichte vom Erinnerungsfälscher schlicht, mit einer gewissen Distanz, nur selten kommt ein wenig Pathos oder Poesie auf. Auch der Khider-typische sarkastische Humor ist in diesem Buch seltener anzutreffen. Es ist ein neuer Versuch, Erinnerungen schreibend neu zu erfinden und dadurch vielleicht ein wenig erträglicher zu machen.
„Erstaunlicherweise findet Said Al-Wahid das Erinnern nicht mehr anstrengend, seitdem er es erfindet.“
Ein schmales, aber sehr intensives Buch.
Mit Löwenherz schafft Monika Helfer ihrem Bruder Richard, diesem eigensinnigen, sanften, widersprüchlichen, fantasievollen Menschen, diesem Schöpfer farbenfroher naiver Malerei und Schmähtandler, der sich mit 30 Jahren das Leben nahm, ein dichtes und zauberhaftes Porträt. Eine wunderbare Ergänzung zu ihren beiden Familienbüchern Die Bagage und Vati. Geschrieben im gleichen reduzierten, lakonischen, brillanten Stil.
Lea Draeger – Wenn ich euch verraten könnte
„Als mein Großvater zwölf Jahre alt war, erhängte sich mein Urgroßvater am Deckenbalken seiner Backstube mit einer Hundeleine.“
Wenn ein Buch mit einem solchen Satz beginnt, ist eigentlich schon klar, dass hier keine Wohlfühllektüre wartet. Der Verlag liefert zudem noch eine Triggerwarnung zu „expliziten Schilderungen psychischer und physischer Gewalt“. Harte Kost also. Die namenlose Ich-Erzählerin in mit Wenn ich euch verraten könnte ist dreizehn Jahre alt und befindet sich zu Beginn des Romans bereits in der Jugendpsychiatrie. Schon sehr bald wird klar, dass sie unter einer schweren Essstörung leidet, stark abgemagert ist und zwangsernährt wird. In vielen kurzen 0-Kapiteln wird von ihrem Aufenthalt im Krankenhaus, der Therapie, den Mitpatient:innen, den Fort- und den Rückschritten erzählt. Dazwischen gestreut sind ebenso kurze Kapitel, die über die Familie der Ich-Erzählerin berichten.
Diese Familie hat es in sich. Welches Trauma der Großvater als Kind erlitt, verrät uns, wie gesagt, bereits der erste Satz. Wie erfolglos der Großvater es verarbeitete, wie er Lieblosigkeit, Strenge und Gewalt, vor allem aber auch die Misogynie, der seine aufopferungsvolle Mutter ausgesetzt war, weiter perpetuierte und seinerseits die Familie zum Ort des Schreckens machte – davon erzählen die Aufzeichnungen.
Er war am Ende genauso gescheitert wie der Urgroßvater, der strenge, fast taube Bäckermeister, der sich das Leben nahm. Beides eigentlich schwache Menschen, die ihr Scheitern mit patriarchaler Strenge und familiärer Gewalt kompensieren wollten.
Es ist ein großes Können der Autorin, dass sie ihre Figuren nie Schwarz-Weiß malt, sondern auch den schlimmsten Drangsalierern ein Stück Verstehen, wenn auch nicht Verzeihen entgegenbringt. Und auch die Frauenfiguren sind höchst ambivalent, sind so verletzend wie stark. Rigider Katholizismus, Fluchterfahrung, strikter Dualismus haben auch sie deformiert. Das Aufschreiben ist für die Erzählerin ein Versuch, mit der Situation klarzukommen, aber auch eine Form der Selbstermächtigung. Denn ihr Weg ist sonst das Schweigen.
Ein intensives, ein gelungenes Debüt.
Damon Galgut – Das Versprechen
Mit dem Roman einer weißen südafrikanischen Familie über dreißig Jahre hat Damon Galgut im vergangenen Jahr den Booker Pize gewonnen. Und das Buch ist wirklich außergewöhnlich. Nicht so sehr seine Geschichte einer dysfunktionalen Farmerfamilie, die ihren Platz in der Gesellschaft nach Ende der Apartheid nicht so recht findet und das von der verstorbenen Mutter ihrer Schwarzen Hausangestellten gegebene Versprechen so wenig einhält wie das Land das Versprechen einer friedvollen Regenbogennation einzuhalten vermag. Der filmische Aufbau, der Closeups, harte Schnitte und abrupte Perspektivwechsel nicht scheut und mit bitterbösem Humor auf seine durchweg recht unsympathischen Figuren schaut, fordert die Leser:innen heraus. Ein trotz seines Anspruchs aber dennoch gut lesbares Buch, das mich sehr überzeugt hat.
Abdulrazak Gurnah – Das verlorene Paradies
2021 ging der Literaturnobelpreis an den aus Sansibar stammenden Autor Abdulrazak Gurnah. Das hatte kaum jemand auf dem Schirm, in Deutschland war kein einziges seiner Bücher lieferbar. Das holt der Penguin Verlag nun in Windeseile nach. Nach dem historischen Roman Das verlorene Paradies, folgt im März bereits Ferne Gestade.
In Das verlorene Paradies verfolgt der Autor das Heranwachsens eines Jungen an der Ostküste Tansanias zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Übermacht der Araber, die bis dahin herrschten und die eine Zweiklassengesellschaft begründeten, in der die oft als Händler auftretenden Araber auf die Schwarze Bevölkerung herabschauten, wird durch die als Kolonialmacht auftretenden Deutschen geschwächt. Deren Einfluss ist aber durch den sich abzeichnenden Ersten Weltkrieg auch nur ein zeitlich begrenzter. Spannend und authentisch erzählt Gurnah von einer vergangenen Zeit. Lesenswert!
Das Massaker von Rechnitz, bei dem am Palmsonntag 1944 im Anschluss an ein von Parteigrößen und SS-Männern besuchtes Fest der Gräfin Margit Batthyány-Thyssen in dem kleinen Städtchen im österreichischen Burgenland 180 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter brutal ermordet und verscharrt wurden, lediglich zehn Tage, bevor die Rote Armee eintraf, bildet den realen Hintergrund für Eva Menasses starken Roman. Die Autorin hält sich eng an die gut recherchierten Fakten, erlaubt sich aber Fiktionalisierungen und Verdichtungen von Vorkommnissen. Mit einen großen Figurenarsenal schafft sie ein Gesellschaftspanorama des ländlichen Österreichs, in dem allzu oft noch Verschweigen und Verdrängen alter Schuld, Ewiggestriges, Misstrauen und Freunderlwirtschaft herrschen. Mit vielen Austriazismen (erklärt in einem angefügten Glossar) und einem in typisch österreichischer Tradition stehendem schwarzironischen Humor zeichnet die Autorin die Verstrickung einer ganzen Gemeinde in ein furchtbares Verbrechen und verbindet es mit der Erzählgegenwart des Sommers 1989 an der österreichisch-ungarischen Grenze. Spannend, erhellend und unterhaltsam zugleich, ist Dunkelblum meine Hightlight bei der Lektüre im Februar 2022.
Stine Pilgaard – Meter pro Sekunde
Stine Pilgaards humorvoller Roman war in Dänemark der erfolgreichste Roman der letzten Jahre und wird auch bei uns sehr gut aufgenommen. Mir ging es leider wie oft mit Büchern, die als Generationenporträt derer in den Dreißigern angepriesen werden (u.a. auch schon mit den Romanen von Sally Rooney): Ich kann damit nicht recht was anfangen. Wobei ich zugeben muss, dass Stine Pilgaard gut schreibt, ich wirklich mehrfach herzhaft lachen musste (besonders die Fahrstunden sind wirklich köstlich) und das Buch eine angenehme Menschenfreundlichkeit ausstrahlt. Dennoch, die von vielen Rezensenten als umwerfend charmant bezeichnete Ich-Erzählerin, die mit ihrem Freund und dem Neugeborenen von Aarhus in einen kleinen Ort nach Westjütland zieht, wo der Mann in einer sogenannten Heimvolkshochschule als Lehrer arbeitet, während sie für die Regionalzeitung als Kummerkastentante tätig ist, finde ich unglaublich nervig. Der witzig-überzogen geschilderte Alltag mit Baby, die Schwierigkeiten, sich als offene Großstädterin mit den eher kargen Menschen Westjütlands zu arrangieren, die eingestreuten, sehr eigenwilligen Briefe an den Kummerkasten nebst merkwürdigen, sich an Anekdoten aus dem eigenen Leben bedienenden Antworten – vielleicht traf das Ganze einfach nicht meinen Humor. Ich fand es größtenteils belanglos. Das ständige „mein Liebster“, statt einen Namen zu nennen ging mir irgendwann genauso auf den Wecker wie die zwischengestreuten, mit neuen Texten versehenen Songs. (Ich habe zeitweise das Hörbuch gehört. Die Sprecherin Caroline Peters hat leider nicht mal versucht, Melodien dafür zu finden. Im Text kann man sie vllt. einfach überblättern). Lediglich die stets neuen Anläufe, den Führerschein zu erwerben, wofür die Ich-Erzählerin 87 stolze Fahrstunden bei Mona und Parkplatz-Peter benötigt, waren oft wirklich schreiend komisch.
Also, nicht unbedingt ein Buch für mich, aber viele andere Leser:innen hatten viel Spaß damit. Und Stine Pilgaards Lust an der Sprache ist genauso zu loben wie die beschwingte Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel.
Das war sie also, meine Lektüre im Februar 2022. Insgesamt ein sehr erfreulicher Monat, auch wenn das leider nur die literarische Seite betrifft. Ich hoffe, es geht euch allen gut, soweit das im Moment möglich ist. Bleibt zuversichtlich und gut zu euch und euren Mitmenschen. Liebe Grüße!