Es ist nicht zwingend notwendig, die realen Hintergründe zum neuen Roman von Eva Menasse, Dunkelblum, zu kennen. Und die Autorin hat weniger die Schilderung eines konkreten historischen Einzelereignisses im Sinn, als die allgemeinen Nachwirkungen, die Schuld und deren beharrliches Leugnen und Totschweigen bis in die Gegenwart haben. Dennoch wirkt die Lektüre mit der Kenntnis der Tatsachen umso beklemmender und erleichtert auch, den einen oder anderen Zusammenhang einzuordnen.
Das historische Ereignis, das dem Roman zugrunde liegt, im Text aber trotz zahlreicher Rückblicke und Erinnerungen immer eine Leerstelle bleibt (um die sich nichtsdestotrotz alles dreht), ist das sogenannte „Massaker von Rechnitz“. Zahlreiche literarische, journalistische und wissenschaftliche Texte, Filme und Theaterstücke (u.a. von Elfriede Jelinek) haben sich mit den furchtbaren Ereignissen des Palmsonntags 1945 beschäftigt. Eva Menasse verlegt sie von Rechnitz in den fiktiven Ort Dunkelblum im Burgenland. Gemeinsam ist ihnen nicht nur die Lage direkt an der österreichisch-ungarischen Grenze, sondern auch die gesamte Topografie. Eva Menasse hat akribisch recherchiert und bleibt den Ereignissen wohl sehr treu. Zahlreiche Ungereimtheiten und Unklarheiten der Geschehnisse konnten aber bis heute nicht beseitigt werden.
Das Fest der Gräfin
An diesem 24. März 1945, gerade einmal zehn Tage vor Eintreffen der Roten Armee im Ort, kam es im Umkreis des Schlosses der Gräfin Margit Batthány-Thyssen zur Erschießung von 180 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern durch die Gäste eines abendlichen Festes der Gräfin mit örtlicher Parteiprominenz und SS-Männern. Die Zwangsarbeiter waren zuvor an der Errichtung des sogenannten „Südostwalls“ zur Verteidigung des Reiches nach Osten beteiligt gewesen. Die Verantwortlichen des Massakers konnten sich danach durch Flucht, zum Teil ins Ausland, vermutlich durch Unterstützung der Gräfin, der Verantwortung entziehen. Zwei Zeugen wurden später ermordet, im Ort selbst stieß man auf eine Mauer des Schweigens. Das Massengrab wurde trotz mehrerer Suchaktionen bis heute nicht gefunden.
Dunkelblum nennt Eva Menasse ihr Rechnitz, bleibt aber ansonsten sehr nah an den Geschehnissen. Erzählt wird multiperspektivisch aus dem Jahr 1989. Ein besonderes Jahr, denn im Sommer 1989 nutzten viele DDR-Bürger die „löchrige“ ungarische Grenze zur Flucht in den Westen. Im August fand ein „paneuropäisches“ Picknick an der Grenze statt, das ebenfalls zur Flucht genutzt wurde. Eva Menasse verlegt beide Ereignisse in die Nähe von Dunkelblum.
Damit aber der Verdichtungen nicht genug. Zeitgleich treffen im Roman Studenten aus Wien ein, um den vernachlässigten jüdischen Friedhof zu sanieren (das geschah in Realität 1988). Es kommt in der Folge zu Schändungen auf demselben, Grabsteine werden zerstört und mit antisemitischen Parolen beschmiert. Gleichzeitig kommt ein Unbekannter nach Dunkelblum. Dieser Alexander Gellért stellt Nachforschungen an bezüglich des Massakers von 1945, vor allem sucht er nach dem Grab der Ermordeten. Dabei behilflich sind ihm der „Ortschronist“, der Reisebürobesitzer Rehberg, der mit der mittlerweile überraschend verstorbenen Eszter Lowetz an einer Abhandlung über die Geschichte des Ortes arbeitete.
Die Menschen von dunkelblum
Das Personal bei Eva Menasse ist sehr umfangreich. Seit Ewigkeiten habe ich mir mal wieder ein Personenverzeichnis erstellt. Im Vor- und Nachsatz zeigt zwar ein von Nikolaus Heidelbach gestalteter Ortsplan die wichtigsten Protagonisten und ihre Häuser an, die mannigfaltigen Verflechtungen zwischen ihnen enthüllt das aber nicht.
Da sind die Ewiggestrigen, wie der Stadthonoratior Dr. Aloys Ferbenz, die Heuraffel-Brüder, der geflickte Schurl und der Berneck von der Versicherung. Da ist der durch eine als Kleinkind im Krieg erlittene Kopfverletzung eingeschränkte Fritz Kalmar und seine traumatisierte Mutter Agnes, der nach dem Krieg zurückgekehrte jüdische Kaufmann Antal Grün und der Doktor Sterkowitz. Außerdem der wegen des Todes seiner Mutter aus Wien zurückgekehrte Lowetz, der scheinbar nie einen Vornamen hatte, und die zukunftsorientierten Weinbauern Malnitz mit der aufsässigen Tochter Flocke.
Und da sind schließlich noch die Geister derer, die nicht mehr am Ort sind, wie die verschwundenen Obernazis Horka und Neulag, aber auch die vertriebenen jüdischen Hotelbesitzer Tüffer oder die Fabrikantenfamilie Rosmarin. Sich in diesem Wimmelbild zu orientieren ist anfangs nicht ganz leicht (deshalb Personenverzeichnis!). Die Vielstimmigkeit und dezentrale Erzählperspektive führt aber zu einem beeindruckend umfassenden gesellschaftlichen Panorama der provinziellen Kleinstadt und ihrer Bewohner. Eva Menasse dreht die Schraube aber noch ein wenig weiter, indem sie auf der Rotensteinwiese nahe Dunkelblum bei Bohrungen für den umstrittenen Wasserverband sterbliche menschliche Überreste finden lässt, die den Bürgermeister Koreny gehörig ins Schwitzen bringen.
Das Schweigen
Es geht um den Umgang mit (Nazi/Kriegs)Verbrechen, um das Schweigen und Abwiegeln (das war nur eine „b´schoffene G´schicht“) und um kollektive Erinnerungen. Tathergang und Beziehungen werden dabei nur nach und nach entrollt. Das fordert den Leser:innen einiges an Geduld und Konzentration ab, die sich aber allemal lohnen. Zum vielstimmigen personalen Erzählen schaltet sich immer wieder eine auktoriale Erzählinstanz ein, die den grotesken, vielfach satirischen Ton des Erzählten verstärkt. Eine starke Mündlichkeit des Stils, die sich vieler Austriazismen bedient, trägt dazu bei. Bei aller Tragik des Geschehens, stellt sich Eva Menasse mit ihrer bitteren Komik in die Tradition schwarzhumoriger, österreichischer Anti-Heimatromane.
Letztlich bleibt vieles offen und ungeklärt in Dunkelblum. Die Leser:innen haben aber, wie immer in guten Romanen, viel gelernt, über die Welt, die Menschen, die Geschichte. Und sind dabei noch glänzend unterhalten worden. Dunkelblum ist ein ganz ausgezeichneter Roman. (Auch wenn ihm unverständlicherweise keine der großen Auszeichnungen des Jahres zugesprochen wurde)
Beitragsbild: Schloss Rechnitz Anonymous / Public domain, via Wikimedia Commons
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Eva Menasse – Dunkelblum
Kiepenheuer&Witsch August 2021, 528 Seiten, € 25,00
„Dunkelblum“ ist wirklich ein großartiges Buch und ein ganz besonderes Leseerlebnis, da sind wir ganz einer Meinung. Ich mochte den Roman ebenfalls sehr. Danke fürs Verlinken und herzliche Grüße!
Sehr gern! Und viele Grüße zurück!
Schließe mich an. Eines der stärksten Bücher der jüngeren Zeit.
Wundere mich weiterhin, wie trotz der schwachen Longlists sowohl dt. als auch östereicher Buchpreis das komplett übergehen konnten.
Verstehe ich auch überhaupt nicht.