Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

2021 stand Sasha Marianna Salzmann mit ihrem grandiosen Generationenroman Im Menschen muss alles herrlich sein auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Heute ist er aktueller denn je, denn der erste Teil davon ist bei in der Ostukraine beheimateten Russen angesiedelt. Vor allem die Frauen stehen hier im Mittelpunkt.

Es beginnt aber zunächst auf einem Hof in Jena-Lobeda. Eine junge Frau liegt dort, sie wurde zusammengeschlagen. Umringt ist sie von ihrer Mutter und deren bester Freundin. Dazu kommt deren Tochter, die als Einzige die Ich-Perspektive im Roman für sich beansprucht, nach dieser kurzen Szene aber zunächst für fast 200 Seiten verstummt. Nach diesem kurzen Prolog beginnt mit Teil 1 der große Rückblick. Eingeleitet wird er von einem Zitat des ukrainischen Autors Serhij Zhadan:

„Abdrücke froher Gesichter in meinen Handflächen. Die Frauen und Männer der Siebziger erhellen wie tote Planeten die sommerliche Luft.“

Eine Kindheit in der Ukraine

Und es beginnt in den 1970er Jahren. Die 1965 geborene Lena wächst in Horliwka, einer mittelgroßen Stadt im Oblast Donezk auf. Die Familie ist russisch, die Sommer verbringt das Mädchen bei der Großmutter in Sotschi. Fast eine Idylle, die Sasha Marianna Salzmann in dichten, atmosphärischen Bildern beschreibt. Natürlich ist das Leben nicht so idyllisch, wie es dem Kind erscheint. Man lebt beengt, finanziell eingeschränkt, unfrei – wir befinden uns in der Sowjetunion Leonid Breschnews. Trotz schulische Bestleistungen muss die Mutter „andere Wege“ gehen, damit Lena im passenden Ferienlager unterkommt und später zum Medizinstudium zugelassen wird. Die Korruption blüht, auf die richtigen Kontakte und vor allem das nötige Kleingeld im verschlossenen Umschlag kommt es an. Auch bei der medizinischen Versorgung.

Lenas Mutter erkrankt schwer, ob ihre Tätigkeit im Chemiewerk etwas damit zu tun hat, bleibt zumindest möglich. Für die Behandlung kassiert die zuständige Ärztin enorme Summen, letztlich ohne Erfolg. Lena hat das Ziel, Neurologin zu werden, um ihrer Mutter selbst helfen zu können. Nach deren Tod wechselt sie zur Dermatologie.

Eine neue Zeit

Mittlerweile hat sich in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion der Wind gedreht. Mit der Perestroika beginnt auch die Zeit der Businessmen, der Oligarchen, jener, die hemmungslos von der neuen Zeit profitieren und sich bereichern. Statt der mehr oder weniger verstohlenen Umschläge fahren nun unverhohlen die Luxuskarossen vor der dermatologischen Privatpraxis, in der Lena nun arbeitet, vor. Salzmann verwendet für diese Zeit auch den Begriff „Fleischwolf“. Für diejenigen Menschen, die sich in der neuen Zeit nicht recht zurechtfinden, etabliert sich hingegen der abschätzige Begriff „Sowok“. Zu Deutsch bedeutet „Sowok“ eigentlich Kehrblech, doch auch der „alte“ Sowjetmensch wurde so bezeichnet. Als Schimpfwort für einen Menschen autoritärer Prägung, lethargisch, wenig anpassungsfähig. „Der Abfall der Geschichte“. Dieser ‚Homo Sowjeticus‘ existiert bekanntlich bis heute. Menschen, die immer noch in einem Land leben, das es nicht mehr gibt, in einer Realität, die längst vergangen ist, die ihre Informationen über Russia Today beziehen, in Nostalgie flüchten.

„Das Einzige, was feststeht, ist, dass es immer noch Nachbeben gibt. Und bei denen, die es am eigenen Leib erfahren haben, wackeln immer noch die Eingeweide. Oder sie leiden an einer Art Phantomschmerz: Das Land, in das sie hineingeboren wurden, ist schon amputiert, aber es schmerzt trotzdem noch. Sonst kann man wenig mit Sicherheit sagen.“

Als Motiv taucht immer wieder die Giraffe des georgischen Malers Niko Pirosmanis auf, der diese gemalt hat, ohne in seiner ländlichen Isolation je ein echtes Tier gesehen zu haben. Ähnlich isoliert fühlten sich viele Menschen in der Sowjetunion.

Niko Pirosmanis – Giraffe 1905 CC0
Emigration

Anfang der 1990er Jahre ergreift Lena die Möglichkeit zur Emigration: von einem Tschetschenen schwanger, der sie aber sitzenlässt, heiratet sie einen alten Bekannten, den Juden Daniel und geht mit ihm als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Hier kommt die Tochter Edi(tha) zur Welt, hier beginnt sie einige Schritte die Karriereleiter hinunter als Krankenschwester in Jena ein neues Leben.

Bis hierhin erzählt Sasha Marianna Salzmann Im Menschen muss alles herrlich sein sehr chronologisch. Kleine Rückblicke führen bis in die Zeit des „Holodomor“, der von Stalin initiierten Hungersnot der Jahre 1932/33, der schätzungsweise drei bis sieben Millionen Ukrainer zum Opfer fielen. Ein ganz dunkles Kapitel der ukrainischen Geschichte, das viel zu wenig bekannt ist und die ukrainisch-russischen Beziehungen bis heute mit prägt.

„Wenn ich mir die Erinnerungstexte der ehemaligen Sowjetmenschen anschaue, habe ich das Gefühl, sie haben nie miteinander gesprochen und wissen gar nicht, dass ihre Realitäten so grundlegend verschieden waren. Dass sie zum Teil völlig unterschiedliche Leben gelebt haben in einem Land, von dem es hieß, es gäbe nur den einen Weg, nur eine Möglichkeit. Und sie werden es auch nie erfahren, weil sie miteinander nur in Zitaten von Schriftstellern reden, die vor Hunderten von Jahren gestorben sind.“

Zum Beispiel mit denen des großen Anton Čechov, aus dessen Onkel Wanja der Titel des Romans entlehnt ist.

Der 50. Geburtstag

Im zweiten Teil von Im Menschen muss alles herrlich sein erzählt Sasha Marianna Salzmann unruhiger, multiperspektivischer, sprunghafter. Neben Lena rückt nun auch Tatjana in den Blickpunkt, die sich von einem deutschen Heiratsschwindler nach Deutschland hat locken lassen und dort zunächst von Lena unterstützt wird. Die beiden werden Freundinnen. Tatjanas Tochter Nina ist die Ich-Erzählerin vom Romananfang, der nun auch Erzählpassagen zugestanden werden. Die Rahmenhandlung dieses zweiten Teils und schlussendlich des ganzen Romans ist der 50. Geburtstag Lenas, den diese in Jena feiern möchte. Der Kontakt zu Nina ist schon länger abgerissen. Sie lässt sich von Tatjana ebenso wie Edi überreden, dennoch zum Fest zu kommen.

Die beiden jungen Frauen eröffnen die Perspektive der zweiten Generation. Derer, die bereits in Deutschland geboren sind, aber sich dennoch irgendwie nicht richtig zuhause fühlen, mit dem Leben und den Werten der Eltern hadern, aber selbst ihren Weg noch nicht so ganz gefunden haben. Für sie sind viele der älteren, aus der Sowjetunion stammenden Menschen in ihrer Zeit stehengeblieben. Ein Traumbild von Nina zeigt eine Reihe von Frauen,

„Keine dieser Frauen rührt sich vom Fleck, ab der Hüfte abwärts sind sie wie gelähmt, sie vervollständigen einfach nur die Kette.“

Es kommt auch das Bild der „Ciguapa“ auf, jener mythologischen Frauengestalt mit rückwärtsgewandten Füßen.

„In einem Blogeintrag stand, ihre Fße sind verdreht, weil sie in die Vergangenheit weisen. Sie geht nicht rückwärts und nicht vorwärts. Sie steckt fest in einer Zwischenzeit.“

Nina lebt recht isoliert, hat psychische Probleme. Die lesbische Edi versucht jenseits der elterlichen Anerkennung in Berlin ein Großstadtleben als Journalistin.

„Berlin war ein Schild“, so heißt es einmal, „das besagte: ‚Alle Richtungen‘. Es ging überallhin. Eine Startlandebahn für alle, die noch tanken mussten.“

Komplexe Frauenleben

Zum großen Panorama eines (Frauen)lebens in der Sowjetunion bzw. der Ukraine gesellen sich nun Generationenkonflikte, missglückte Mutter-Tochter-Beziehungen, Identitätssuchen, die Schwierigkeit des sich Einfindens in ein gänzlich neues Leben und das Fortbestehen patriarchaler Strukturen. Strukturen, die gerade dabei sind, die Welt zu erschüttern.

„`Mama erklärte mir dann später zu Hause, dass der Sohn von Larissa Wladimirowna im Tschetschenienkrieg gefallen ist, deshalb waren die Soldaten in der Schule aufgetaucht. Und dass wir weggehen, damit sie nicht auch irgendwann Besuch bekommt von Männern in Uniformen. `Das konnte deine Mutter damals nicht wissen, dass es einen zweiten Tschetschenienkrieg geben wird. `Wenn nicht gegen Tschetschenen, dann eben gegen jemand anderen. Dagestan, Ossetien, Transnistrien, Ukraine. Macht es einen Unterschied, wo man abgeknallt wird?`“

Sasha Marianna Salzmann erzählt so klug, einfühlsam, souverän und klug, dass man diesem Buch tatsächlich mehr als eine Longlist-Nominierung gewünscht hätte. Vor kurzem wurde ihr der Preis der Literaturhäuser zugesprochen. An genau diesem Tag hätte ich sie auf einer Veranstaltung des Literaturzentrums Gießen sehen sollen, was leider nicht geklappt hat. Von hier aus aber meine allerherzlichsten Glückwünsche! Ein wirklich preiswürdiger, großartiger Roman.

 

Auch auf Letteratura gibt es eine Besprechung des Romans

 

Beitragsbild: Szene aus Onkel Wanja Deutsche Fotothek (CC BY-SA 3.0 DE) via Wikimedia Commons

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Sasha Marianna Salzmann Im Menschen muss alles herrlich sein.

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Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich 
Suhrkamp September 2021, Fester Einband mit Schutzumschlag, 384 Seiten, € 24,00

 

 

 

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