Warum 2022 eine Buchmesse_popup in Leipzig?
Als im Februar verkündet wurde, dass die Leipziger Buchmesse 2022 erneut ausfallen soll – das dritte Mal in Folge -, war nicht nur die Verzweiflung in der Buchwelt groß, sondern auch eine gehörige Portion Zorn dabei. Viele Verlagsleute, Leser:innen und vor allem auch Autor:innen wollten nicht so einfach hinnehmen, dass trotz veränderter Coronalage, umfassenden Testmöglichkeiten, relativ hoher Impfquote und umfassendem Hygienekonzept keine Messe stattfinden sollte, obwohl das Land Sachsen, die Stadt Leipzig und die Leipziger Messe grünes Licht gegeben hatten.
Man kann nun darüber streiten, ob die Absage der großen Konzernverlage – Randomhouse, Holtzbrinck, Bonnier mit ihren publikumswirksamen Marken -gerechtfertigt war, nur ökonomischen oder vielleicht doch coronabedingten Bedenken entsprang, ob nicht auch ohne diese Giganten eine Messe vor Ort lohnend gewesen wäre, und vor allem, ob die Messeleitung nicht einen Plan B vorbereitet hätte haben sollen.
Leipzig liest trotzdem
Dass eine einfache Absage, vor allem auch der schon fest geplanten Lesungen im Stadtgebiet, einen gewissen Ärger auslösen würde, war eigentlich klar. Dass dieser Ärger und diese Enttäuschung dann aber in einen so kreativen, produktiven Prozess münden sollte, konnte man kaum ahnen. Ich zumindest hatte nur leise gehofft, dass einige der kleineren Veranstaltungen dennoch stattfinden würden, und habe deshalb meine Reservierungen für Leipzig nicht gleich storniert.
Verschiedene Initiativen begannen ziemlich schnell, sich zu überlegen, wie man zumindest einen Rest Messeerlebnis sichern könnte. Das Literaturhaus Leipzig signalisierte sehr bald, die geplanten Veranstaltungen trotzdem stattfinden zu lassen, eine Gruppe von Literatur-, Medien- und Technologiespezialisten initiierten mit Weiter:lesen22 eine Lesungsreihe in Moritzbastei und Felsenkeller und Gunnar Cynybulk (Verlag Voland&Quist) und Leif Greinus (Kanon Verlag) hatten die großartige Idee einer Buchmesse_popup in Leipzig 2022 (Stream) im Werk2 in Leipzig Connewitz. 120 Anmeldungen kamen in kurzer Zeit rein, rund 60 Verlagen konnten die Veranstalter zusagen. Viele der Veranstaltungen lassen sich noch im Stream nachschauen.
Zahlreiche Veranstaltungen
Der Zuspruch vom Lesepublikum war immens, die zweistündigen Zeitslots an drei Tagen waren ruckzuck ausverkauft, zahlreiche Lesungen an verschiedenen Orten (Werk2, Südbrause, Cammerspiele) kamen dazu. Weitere Veranstaltungen, beispielsweise in der Schaubühne Lindenfels und dem UT Connewitz, kamen nach und nach hinzu. Und – für mich besonders erfreulich – auch die Gastländer nahmen mit Veranstaltungen und Autor:innen teil. Portugal, dessen Auftritt bereits 2021 verschoben werden musste, war genauso dabei wie Österreich, das im nächsten Jahr Gastland sein wird. Schließlich kam auch das Blaue Sofa mit seinen gewohnten Programm in die Kongresshalle am Zoo.
Insgesamt war das Angebot derart vielfältig und umfangreich, dass ich locker zwei oder drei Veranstaltungen gleichzeitig hätte besuchen können, ohne mich zu langweilen.
Schließlich sind es aber auch die Begegnungen mit anderen Buchmenschen, die eine Messe so wunderbar und unentbehrlich machen. Und auch daran mangelte es nicht. Viele liebe Blogger:innen und Instagrammer:innen waren vor Ort und machten die Tage zum Fest.
Der Donnerstag
Los ging es am Donnerstag für mich mit dem Blauen Sofa. Zusammen mit Bozena Badura verfolgte ich die Blaue Stunde, die dem Gastland Portugal gewidmet war. Vier portugiesischsprachige Autor:innen nahmen Platz. Der Gastlandauftritt war ausdrücklich der Lusophonie gewidmet, so dass auch Stimmen aus Ländern wie Brasilien, Mosambik und Angola zu Wort kamen.
Die 1967 in Rio de Janeiro geborene Autorin und Übersetzerin Carla Bessa lebt bereits seit 1991 in Berlin. Auf dem Blauen Sofa stellte sie ihren Band mit zusammenhängenden Erzählungen, Urubus, erschienen bei Transit, vor. Ebenfalls aus Brasilien kommt Tatiana Salem Levy, die ihren Roman Vista Chinesa dabeihatte, der die wahre Begebenheit einer brutalen Vergewaltigung thematisiert (bei Secession). José Luis Peixoto erzählte über seinen Heimatort Galveias, der seinen jüngsten Roman so betitelte (Septime Verlag). Schließlich sprach die in Angola geborene Yara Monteiro über den Angolanischen Befreiungskrieg, der viele Portugiesen zur Rückkehr ins Mutterland zwang. In Schwerkraft der Tränen erzählt Monteiro von einer Frau, die für ihr Land kämpft, und darüber die eigene Tochter vernachlässigt.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine war zu Beginn ein Thema auch in dieser Runde, die dazu bewegende Worte fand. Sowohl José Luis Peixoto als auch Yara Monteiro nahmen sich nach der Veranstaltung noch Zeit, um mit Bozena und mir zu plaudern, zu signieren und ihre Bereitschaft zu Online-Treffen zu signalisieren. Zwei ausgesprochen sympathische, den Leser:innen zugewandte Autor:innen, die ihre Enttäuschung über die erneute Absage der Messe nicht verbargen.
Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse
Der zweite große Programmpunkt am Donnerstag war die Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse 2022, der einzigen Veranstaltung, die auf dem Messegelände stattfand. In die gewohnte Umgebung der Glashalle waren Gäste und Nominierte geladen, um der Verkündung der drei Preisträger:innen in den Kategorien Übersetzung, Sachbuch und Belletristik beizuwohnen. Die Jury stand dieses Jahr unter dem Vorsitz von Insa Wilke.
Gewonnen haben: Anne Weber für die Übersetzung von Nevermore von CÉCILE WAJSBROT, Uljana Wolf für Etymologischer Gossip. Essays und Reden und Tomer Gardi für Eine runde Sache. Damit ging der Preis für Belletristik zum zweiten Mal in Folge an den Literaturverlag Droschel. Herzlichen Glückwunsch allen Preisträgern! Auch bei der Preisverleihung war der Krieg gegen die Ukraine ein präsentes Thema. Danach wurde dennoch im kleinen Rahmen zu Sekt und Brezeln gefeiert.
Portugal-Abend im Literaturhaus Leipzig
Am Abend stand dann das zweite Portugal-Event an. Im Literaturhaus wurde die Ausstellung „Frauen bei Saramago“ eröffnet. Danach sprachen José Luis Peixoto und die aus Angola stammende Dulce Maria Cardoso über ihre Bücher. Die 1964 geborene Cardoso kehrte als Kind selbst aus Angola nach Portugal zurück und erzählt in Die Rückkehr die Geschichte als Flüchtling aus den verlorenen Kolonien und die Ankunft in einem von der Nelkenrevolution erschütterten Land. Im Anschluss sprach noch Djaimilia Pereira de Almeida über Im Auge der Pflanzen. Beide Auftritte von Portugal in Leipzig waren ausgesprochen gelungen und machen sehr neugierig auf Literatur aus einem Land, das ich sehr liebe, dessen Romane bei mir aber bisher kaum Beachtung gefunden haben. Das wird sich jetzt ändern, denn ich habe ordentlich eingekauft. 😉
Der Abend klang dann gemütlich aus, mit Ruth und Bozena in der Pizzeria Andria.
Der Freitag
Tag 2 stand dann bereits im Zeichen der Popup-Buchmesse im Werk 2. Die Strecke nach Connewitz habe ich ein wenig unterschätzt, so dass die Wanderung dorthin keine ganz so gute Idee war. Aber das Wetter war bestens und die Kneipendichte an der Karl-Liebknecht-Straße beachtlich. Halle A war gut gefüllt mit ca. 60 Verlagen:
Argument Verlag mit Ariadne , Aufbau Verlage, AvivAVerlag bahoe books, Berenberg Verlag Büchergilde Gutenberg, Carl Hanser Verlag, Connewitzer Verlagsbuchhandlung CulturBooks Verlag, Dörlemann Verlag, E. A. Seemann Henschel Verlagsgruppe, Edition Nautilus, edition überland, edition.fotoTAPETA, Elif Verlag, Elster & Salis, Folio Verlag, Kampa, Schöffling, Jung + Jung, Kanon Verlag, Karl Rauch Verlag, Katapult-Verlag, Kein & Aber, Klett-Cotta-Verlag, Kookbooks, KREUZER Medien, Liesmich Verlag, Literaturverlag Droschl, mareverlag GmbH & Co., Maro Verlag, März Verlag GmbH, MERLIN Verlag, mikrotext, Mitteldeutscher Verlag, Mixtvision Mediengesellschaft, Matthes & Seitz, Orlanda Verlag, PalmArtPress, parasitenpresse, Residenz Verlag, Satyr Verlag, Spector Books, Suhrkamp Verlag AG, Trabanten Verlag, Transit Buchverlag, Ventil Verlag, Verbrecher Verlag, Verlag Antje Kunstmann, Verlag C.H. Beck, Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Verlag Faber & Faber, Verlag Hermann Schmidt, Verlag Klaus Wagenbach, Verlag Kremayr & Scheriau, Verlagshaus Berlin, Verlagshaus Römerweg GmbH, Voland & Quist, Wallstein Verlag , Wieser und Drava Verlag, Zweitausendeins GmbH & Co. KG
Ein paar spezielle Empfehlungen von einigen speziellen Herzensverlagen
Danke an alle teilnehmenden Verlage
Danke an alle teilnehmenden Verlage, die diese Buchmesse_popup in Leipzig 2022 zu einer Veranstaltung gemacht haben, auf die die großen Konzernverlage richtig neidisch sein können. Tolle Stimmung, nette Gespräche auf Augenhöhe, gut gelaunte, zugewandte Verlagsmitarbeiter, viele viele Bücher und überall bekannte Gesichter (wenn auch durch Maske teilverhüllt 😉 ). Das war richtig schön und alles zusammen – Messe, die vielen Lesungen und die intensiven Begegnungen – eine der schönsten „Messen“, die ich überhaupt bisher besucht habe.
Mittags ging es dann zu einer kurzen Lesung von Fatma Aydemir zu Dschinns in der gemütlichen Südbrause. Danach zog es mich dann erneut ins Literaturhaus zu der Autor:innen-Veranstaltung „Metamorphosen“, zu der ich mit Sabine Gelsing verabredet war. Sabine und ich waren im gleichen Hotel untergebracht und teilten Frühstück und den einen oder anderen „Absacker“ in der Rooftop-Bar 😉 Hier bei Metamorphosen lasen Nino Hartischwili (Das mangelnde Licht) und Katerina Poladjan (Zukunftsmusik). Natürlich war auch hier die Ukraine zentrales Thema.
Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah im Paulinum
Um 18 Uhr stand dann ein weiterer Programmhöhepunkt an: die Lesung von Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah im Paulinum. Ruth Justen, mit der ich den Abend verbringen durfte, erzählte mir die unglaubliche Geschichte der Sprengung der vom Krieg unversehrten Universitätskirche 1968 auf Anordnung der DDR-Führung und der erst 2017 eröffneten Aula mit Reminiszenzen an diesen schmerzlich vermissten Bau. Durch den Abend führte Jan Drees. Zentral drehte er sich um den auf Deutsch neu veröffentlichten Roman Ferne Gestade (im Original 2002 erschienen und für den Booker Prize nominiert). Eine Geschichte über zwei Männer, die getrennt voneinander, fern der Heimat Sansibar ein neues Leben in London suchen. Ein beeindruckender Autor, dessen historischer Roman Das verlorene Paradies mir sehr gefallen hat.
Der Samstag
Der Samstag begann dann wieder mit Buchmesse_popup Leipzig 2022. Zwei Slots, unterbrochen von einem Mittagessen mit Constanze Matthes (Zeichen & Zeiten). Wieder erwies sich Dinçer Güçyeter zusammen mit Wolfgang Schiffer als weltbester Taschenaufbewahrer (und natürlich Lyrik-Enthusiast, Verleger und Peter-Huchel-Preisträger 😉 ). Viele spannende Tipps von Verleger:innen und Verlags:mitarbeiter:innen habe ich oben im Beitrag geteilt.
Dann folgte eine Lesung mit der jungen und sehr sympathischen Autorin Irene Solà. Im neuen Trabanten Verlag von Fabian Leonhard erschien ihr Roman Singe ich, tanzen die Berge. Fabian moderierte und las die deutschen Texte bei der Veranstaltung in der Südbrause. Ich freue mich sehr auf das Buch, gerade auch weil Spanien zur Frankfurter Buchmesse 2022 Gastland sein wird. Die Literatur des Gastlandes wird dann wieder im Mittelpunkt eines größeren Beitrags hier stehen.
Ukraine
Abschluss war dann ein hochkarätig besetztes Panel zum Ukraine-Krieg unter der Überschrift „Nein zu Putins- Krieg – Was kann Literatur leisten?“. Als Veranstaltung des PEN, moderiert von Cornelia Zetzsche sprachen die ukrainische Schriftstellerin Marjana Gaponenko, der Historiker Karl Schlögel, die belarussische Schriftstellerin und Übersetzerin Volha Hapejewa, der in der Schweiz lebende russische Autor Michail Schischkin und – aus Lwiw zugeschaltet – der Journalist und Übersetzer Juri Durkot. Während sich Schlögel an seinem (sicher berechtigten) Putin-Hass abarbeitete und ständig betonte, wie sinnlos ihm ein solches „Talkshow“-Format erscheint, war der Austausch ansonsten sehr interessant und empathisch und machte in der Zuschalte von Durkot noch einmal die Tragik des Geschehens dramatisch spürbar.
Besonders beeindruckend war für mich der Beitrag eines sichtlich sehr betroffenen Michail Schischkin, der das ukrainische Volk um Vergebung bat, aber in Frage stellte ob sein Volk der Aufgabe einer nötigen „Deputinisierung“ des Landes gewachsen sei und letztendlich von einem „Kniefall“ sprach, den Russland am Ende machen müsse. Dass tatsächlich ein großer Teil des russischen Volks hinter der Politik des Despoten und damit auch hinter dem Krieg steht, aus welchen Gründen auch immer, wird im Westen gern übergangen oder geleugnet.
Ein eindrucksvolles Ende eines rundum gelungenen Ausflugs nach Leipzig und in die Welt des geschriebenen Worts, das zeigte, wie relevant und wichtig Literatur auch in dieser schwierigen Zeit ist und dass sich Solidarität, Engagement und Freude verbinden lassen: Buchmesse_popup Leipzig 2022
Seid solidarisch, lasst euch berühren, lest weiter. Wir sehen uns im Herbst in Frankfurt!
Mit der Absage der Buchmesse sagte ich auch ab und stornierte das nicht billige Quartier während der Buchmesse. Lese ich aber deinen sehr informativen und eindrucksvollen Bericht, hätte ich der Überlegung, zwei oder drei „Zeitfenster“ zu kaufen, nachgeben sollen.
Vielen Dank für diese Einblicke.
Sehr gerne, lieber Uwe! Es war eine wirklich tolle Sache, nicht nur die Buchmesse_popup, sondern die vielen, vielen Veranstaltungen in ganz Leipzig. Und die vielen Buchmenschen, die dennoch da waren. Außerdem sind die Preise nach der offiziellen Absage um die Hälfte gefallen 😉
Ein wirklich toller Beitrag über ein grandioses literarisches Wochenende! Da du ein bisschen weiter herum gekommen bist als ich, konnte ich so noch ein paar Einblicke in die außerhalb verorteten Lesungen und Veranstaltungen gewinnen. Vielen Dank. 🙂
Sehr gern, liebe Jule. Schade, dass wir uns nicht begegnet sind in Leipzig. Viele Grüße, Petra
Liebe Petra,
Schöne Impressionen, als ob ich auch dort gewesen und nicht nur ein paar Bücher „meiner“ Autor*innen.
Dass du die Verlegerinitiatoren vertauscht ihren Verlagen zugeordnet hast, ist auch schon egal : )
LG Senta
Liebe Senta, doch, dass ist peinlich und ich weiß es eigentlich besser. Danke fürs Aufmerksammachen! LG Petra
gern gelesen und bedauert, nicht hingefahren zu sein – aber ich bin immer noch ängstlich besorgt um meine ramponierten Lungenflügelchen – umso erfreuter über die anschauliche Nachlese, liebe Petra Reich. Grand Merci! Margarete Schwind
Sehr gern! Es war wirklich toll. Und ich bin zum Glück auch unbeschadet nach Hause gekommen. Viele Grüße!
Ein schöner persönlicher Überblick, liebe Petra.
Herzlichen Dank dafür, dass ich in jeder Hinsicht „im Bild“ sein darf!
Liebe Grüße
Wolfgang
Sehr gerne lieber Wolfgang!