Aghet – der Völkermord an den Armeniern begann im April 1915, als hunderte namhafte armenische Schriftsteller und Intellektuelle aus Istanbul verschleppt wurden. Darauf folgend wurden die armenischen Soldaten aus dem Heer entlassen, später fast alle wehrfähigen Männer exekutiert und die gesamte restliche Bevölkerung, vor allem Alte, Frauen und Kinder, aus den armenischen Dörfern deportiert. Die Vertreibung der Armenier endete in Todesmärschen quer durch Anatolien oder in die syrischen Wüste: bis zu 1,5 Millionen Menschen liefen so in den Tod. Während die Türkei den Genozid immer noch leugnet, findet man mittlerweile immer häufiger Romane, die von der Enkel- und Urenkelgeneration verfasst wurden und die sich mit den Spuren, die die vor mehr als einhundert Jahren verübten Taten bei den Familien und Nachkommen hinterlassen haben, beschäftigen. 2019 etwa stand Katerina Poladjans Hier sind Löwen auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Laura Cwiertnia schreibt in ihrem Debüt Auf der Straße heißen wir anders über eine Familie mit armenischen Wurzeln.
Der tod von Maryam
Laura Cwiertnia siedelt ihre Geschichte zwischen Bremen-Nord, Istanbul, Jerusalem und Jerewan an und bedient verschiedene Zeitebenen. Ausgangspunkt ist wie so oft eine Beerdigung. Großmutter Maryam ist gestorben und hinterließ genaue Anweisungen, wie nach ihrem Tod zu verfahren ist. Obwohl ihre Wurzeln und ihre Religion für die bereits früh als Gastarbeiterin aus der Türkei nach Deutschland gekommene Frau nie eine große Rolle gespielt haben, wünscht die sich nun eine traditionelle armenische Beisetzung. Außerdem finden die Nachkommen einen schweren alten Armreif und einen Zettel mit der Bitte, diesen einer Lilit Kuyumcyan in Jerwan/ Armenien zu übergeben. Kuyumcyan war der Mädchenname von Urgroßmutter Armine. Aber niemand aus der Familie weiß etwas von einer Lilit.
Karla, die Enkelin, schlägt ihrem Vater Avi vor, nach Armenien zu reisen und nach dieser Lilit zu suchen. Avi, der in Istanbul und in einem Internat in Jerusalem großgeworden ist, stimmt zögerlich zu. Er war bisher noch nie im Heimatland seiner Eltern. Durch die Reise mit seiner Tochter werden Erinnerungen wach, aber auch Dinge ans Licht befördert, die weder Karla noch Avi gewusst haben. Über die Zeit in Armenien wurde in der Familie nie wirklich geredet.
Verschiedene Perspektiven
Karla bekommt als Ich-Erzählerin zahlreiche Kapitel, andere sind Avi oder Maryam gewidmet. Gegen Ende ist auch für Armine ein Kapitel reserviert. Im Mittelpunkt steht aber eindeutig Karla. Sie besitzt sogar zwei Erzählebenen, einmal als Ich-Erzählerin in den Karla-Kapiteln der Gegenwartsebene und einmal als Kind Karlotta, wo in der personalen Perspektive erzählt wird, um den Abstand der nun erwachsenen Tochter zu ihrem früheren Ich zu verdeutlichen.
Die Ehe von Avi und Karlas deutscher Mutter scheitert bald, Karla hat zu beiden noch einen guten Kontakt, auch wenn ihr als Taxi-Fahrer arbeitender armenischer Vater etwas flatterhaft erscheint. Seine Mutter Maryam hat die deutsche Schwiegertochter allerdings nie richtig anerkannt. Karla selbst hatte mit ihrer strengen, immer wieder auch schwierigen Großmutter dennoch ein gutes Verhältnis.
Der Völkermord
Die Rückblenden in die Vergangenheit führen auch zurück zum Völkermord 1915, aber auch zu einem Pogrom in Istanbul 1955, das sich in erster Linie gegen die griechische Bevölkerung richtete, aber auch zahlreiche Armenier zum Opfer hatte. Maryam, die in der Türkei aus Furcht vor Verfolgung und Anfeindung schon längst zu Meryem wurde – Auf der Straße heißen wir anders –, beschließt, sich als Gastarbeiterin anwerben zu lassen. Sie lässt Mann und kleinen Sohn zurück, was ihr die Beiden nie ganz verzeihen. Ihr Ankommen und Leben in Deutschland ist ein weiterer Themenschwerpunkt.
Detailliert, atmosphärisch und gut komponiert erzählt Laura Cwiertnia in Auf der Straße heißen wir anders über armenisch-türkische Geschichte, von Herkunft und Zugehörigkeit, Heimat und Identität. Davon, wie, ähnlich wie in vielen jüdischen Familien nach dem Holocaust, über die Vergangenheit geschwiegen wird und sie dadurch auch nachfolgende Generationen vergiftet, transgenerationale Traumata befördert.
Laura Cwiertnia ist mit Auf der Straße heißen wir anders ein ausgesprochen souveränes, kluges und berührendes Debüt gelungen, das ich ausgesprochen gern gelesen habe.
Eine weitere Besprechung findet ihr bei Ines Letteratura
Beitragsbild: Ararat via Pixabay
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Laura Cwiertnia – Auf der Straße heißen wir anders
Klett-Cotta 2022, 240 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag, € 22,00
Thematisch stark & auch das hinzufügen von Perspektiven durch die immer weiteren Rückblenden fand ich gelungen. Trotzdem überzeugt mich die Komposition nicht ganz. Besonders der Beginn hängt mE rückblickend zu stark in der Luft. Da werden all diese Beziehungen zu den anderen Früh-Teenager-Figuren entwickelt, und dann komplett fallen gelassen. Man hätte doch erwartet, dass wenn solche Akribie auf Teenager-Probleme und Teenager-Freundschaften verwandt wird, das wenigstens zwischendurch oder zum Schluss noch einmal aufgegriffen wird.
Interessant. Das hat mich irgendwie gar nicht gestört. Für mich stand von Anfang an das Vater-Tochter-Verhältnis und der „fortschreitende“ Blick in die Vergangenheit im Mittelpunkt.