Als der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1989 in einem Artikel über den Zusammenbruch der UdSSR und der von ihr abhängigen sozialistischen Staaten das „Ende der Geschichte“ und den Sieg des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft weltweit prognostizierte, blieb seine These natürlich nicht unwidersprochen. Dennoch, ein klein wenig fühlte es sich so an, als würden nun alle Diktaturen und weltpolitischen Konfrontationen nach und nach durch den Wunsch der Völker nach Freiheit verschwinden. Heute wissen wir, wie naiv auch nur dieser Gedanke war. Wie es sich aber angefühlt hat, an dieser Bruchstelle der Geschichte quasi auf der „Verliererseite“ zu stehen, erzählt uns jetzt die aus Albanien stammende und an der London School of Economy politische Theorie lehrende Philosophin Lea Ypi in ihrem Memoir Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte.
Frei
Natürlich kennt man ähnliche Berichte, entweder aus eigener Anschauung oder durch die vielen, vielen Zeugnisse, die Autor:innen aus der ehemaligen DDR verfasst haben. Die Ausgangslage ist aber eine etwas andere. Während im deutschen Osten der Blick nach Westen nie ganz verstellt war, war Albanien lange Zeit ein völlig abgeschottetes Land mit einem besonders rigide durchgesetzten Sozialismus. Man sprach auch vom „Nordkorea auf dem Balkan“. Nach der Besatzung des Königreichs Albanien während des Zweiten Weltkriegs durch Italien und später Deutschland orientierte sich der 1944 zum Führer des Landes aufgestiegene Kommunist Enver Hoxha stark an Titos Jugoslawien, brach aber damit, als sich das Land von Stalin distanzierte. Ende der 1970er Jahre war Albanien völlig isoliert und wurde von seinem Diktator, der überall im Ausland Feinde witterte und 173.371 Bunker bauen ließ (geplant war ein Vielfaches), konsequent abgeschirmt.
„Unsere Feinde versuchten regelmäßig, die Regierung zu stürzen, und ebenso regelmäßig scheiterten sie. Ende der Vierzigerjahre hatten wir uns von Jugoslawien losgesagt, weil es mit Stalin gebrochen hatte. Als Chruschtschow in den Sechzigerjahren Stalins Erbe entehrte und uns ‚linksnationalistisches Abweichlertum‘ vorwarf, kappten wir die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion. In den späten Siebzigern kündigten wir unsere Allianz mit China auf, weil es beschlossen hatte, reich zu werden und die Kulturrevolution zu verraten. Uns kümmerte es nicht. Wir waren von mächtigen Feinden umzingelt, aber wir wussten, wir standen auf der richtigen Seite der Geschichte.“
So lernte es zumindest die kleine Lea Ypi in der Schule und fühlte sich dabei völlig frei. Sie verlebte eine glückliche Kindheit in ihrem Heimatland, ihrem „Reich der Freiheit“, das zwar von außen bedroht, im Inneren aber von „Onkel Enver“, der „die Kinder genauso sehr liebt wie Stalin“, wohlbehütet wird, gut aufgehoben fühlt.
Eine Zäsur
1990, Lea ist gerade elf Jahre alt geworden, erreicht der Zerfall des Ostblocks allerdings auch Albanien und Dürrёs, die westlich von Tirana gelegene Hafenstadt, in der die Familie Ypi wohnt. Lea erlebt die Massenproteste, initiiert zunächst von Studenten, an einem nassen Dezembernachmittag nach der Schule und beginnt ihr Memoir, das zugleich und vielleicht vor allem ein Nachdenken über verschiedene Freiheitskonzepte ist, so:
„Ich habe mich nie gefragt, was Freiheit bedeutet, nicht bis zu dem Tag, als ich Stalin umarmte. (…) Es stand mir frei, mich zu entscheiden. Jede Route [von der Schule nach Hause] warf andere Fragen auf, es galt, Gründe und Konsequenzen abzuwägen, die möglichen Folgen zu bedenken und eine Entscheidung zu treffen, von der ich wusste, dass ich sie am Ende vielleicht bereuen würde. So wie an diesem Tag. Ich hatte frei entschieden, auf welchem Weg ich nach Hause gehen würde, und die falsche Wahl getroffen.“
Lea gerät in eine Demonstration, die sie nachhaltig verstört. Wogegen protestieren diese „Hooligans“? Warum kämpfen sie gegen ein Land, das doch eine Insel des Glücks und der Freiheit ist? Für das Mädchen, das in der Schule ordentlich indoktriniert wurde und in einer glücklichen Familie aufwächst, stellt dieser Dezember 1990 eine radikale Zäsur dar, ein Schock, der all ihre Gewissheiten hinwegfegt. Bis dahin haben wir Leser:innen das Leben in Albanien nur aus der Sicht des Kindes Lea kennengelernt: das lästige, irgendwie aber auch spannende Schlange stehen vor den Geschäften, die Sendung „Fremdsprachen zu Hause“, mit der man ein wenig Duft der weiten Welt atmet, der verführerrische Duft der unbekannten Sonnenmilch bei den wenigen Touristen, das ersehnte Pionierhalstuch, der kleine, gesicherte Familienrahmen. Das alles begann plötzlich zu wanken.
„Meine Eltern offenbarten mir die Wahrheit, ihre Wahrheit. Sie sagten, fast ein halbes Jahrhundert lang sei mein Land ein Freiluftgefängnis gewesen.“
Erschütterte Gewissheiten
Nun wird auch das Vertrauen in die Eltern und die Großmutter Nini erschüttert. Diese haben Lea Ypi bisher nie den Glauben, frei zu leben, geraubt. Dabei waren sie, die „Studierten“, die „Intellektuellen“, die Nachkommen von enteigneten Landbesitzern, immer schon Teil der „missliebigen“ Bevölkerung. Ihre Familiengeschichte erschließt sich dem Mädchen erst nach und nach. Benutzten Vater, Mutter und Großmutter doch stets eine Art verschlüsselter Geheimsprache, um sich und das Kind zu schützen. Die zahlreichen Gespräche über Studien und Universitäten waren Codes. „Studienabbrecher“ bedeutete Ermordete, „strenge Professoren“ Folterer, „ehrgeizige Studenten“ waren Spitzel.
Die französischsprechende Großmutter stammt aus einer großbürgerlichen Familie des osmanischen Reichs und hat am Lycée Thessalonikis studiert, der Urgroßvater beging 1947 als verfolgter Muslim „Allahu akbar“ rufend Selbstmord und der Vorfahr Xhafer Bej Ypi war von 1922 bis 1925 Mitglied der albanischen Regierung.
Liberalismus
Der Bruch in Lea Ypis Kindheit zeigt sich auch in der Zweiteilung ihres Memoirs. Nach den Kindheitserinnerungen wird der zweite Teil nun analytischer. Für Ypi beginnt keineswegs eine goldene Zeit der Freiheit. Sie sieht sehr genau, dass der nun anbrechende Wirtschaftsliberalismus das Land überfordert. Viele Albaner:innen nutzen einen günstigen Moment zur Flucht nach Italien. Aber anders als in den Jahren der geschlossenen Diktatur waren sie plötzlich im Ausland alles andere als willkommen.
„In der Vergangenheit wäre man für den Ausreisewunsch verhaftet worden. Aber nun, da niemand mehr die Ausreise verhinderte, waren wir auf der anderen Seite der Grenze nicht mehr willkommen. Das Einzige, was sich verändert hatte, war die Farbe der Polizeiuniformen. Jetzt wurden wir nicht mehr im Namen unserer Regierungen verhaftet, sondern im Namen anderer Staaten, deren Regierungen uns früher dazu aufgerufen hatten, in die Freiheit aufzubrechen.“
Während sich die Mutter Doli in der Demokratischen Partei engagiert, reüssiert der Vater Zafo als Hafenmeister, muss aber die bitteren Pillen des Kapitalismus schlucken und zahlreiche seiner Arbeiter wegrationalisieren. Andere bereichern sich skrupellos. Raubtierkapitalismus nennt man das wohl, Korruption ist das neue Schlagwort. Durch dubiose Schneeballsysteme ruinieren sich in der Folge viele Albaner:innen, die Wirtschaft bricht zusammen und Chaos aus. Die Unzufriedenheit im Land steigt. 1997 kommt es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, vor denen die Mutter mit dem kleinen Bruder Lani nach Italien flieht. Lea Ypi stellt für die Monate Januar bis April ihre damaligen Tagebuchnotizen in den Text. Eine Zeit der Unruhe und der Angst. Nach ihrem Schulabschluss entscheidet sie sich für ein Studium im Ausland.
Mit Frei hat Lea Ypi ein warmherziges und oft auch humorvolles Memoir geschrieben, dass zugleich über verschiedene Freiheitskonzepte und die jüngere Geschichte Albaniens nachdenkt. Das ist so unterhaltsam wie erhellend und in einer wunderbaren Sprache (Übersetzung Eva Bonné) verfasst.
Beitragsbild by Usien, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
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Lea Ypi – Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Suhrkamp März 2022, Fester Einband, 332 Seiten, € 28,00
Vielen Dank für deine Besprechung. Als ich heute Morgen einen Blick in meinen Feedreader warf, entdeckte und las ich sie. Es geschah etwas, dass eher selten geschieht, ich bekam Gänsehaut. Deine Zeilen, die ausgewählten Zitate, all das ließ mich innerlich Aufschreien. Natürlich lässt sich meine Kindheit in der DDR nicht mit der von Lea Ypi in Albanien vergleichen, nicht 1:1 wenigstens.
‹ In der Vergangenheit wäre man für den Ausreisewunsch verhaftet worden. Aber nun, da niemand mehr die Ausreise verhinderte, waren wir auf der anderen Seite der Grenze nicht mehr willkommen. Das Einzige, was sich verändert hatte, war die Farbe der Polizeiuniformen. Jetzt wurden wir nicht mehr im Namen unserer Regierungen verhaftet, sondern im Namen anderer Staaten, deren Regierungen uns früher dazu aufgerufen hatten, in die Freiheit aufzubrechen.›
Diese Erlebnisse kennen etliche die ‹in den Westen gingen› weil sie mussten, um Arbeit zu finden, die Freiheit die versprochen wurde, die sie auf den Straßen forderten, ebenso oder ähnlich. Die wenigen die die Mauer durchbrachen wurden gefeiert, als sie offen war, seit sie offen ist, seit der Vereinigung schauen viele abschätzig gen Osten.
Ebenso ihre Reflexion zum Freiheitsbegriff, etwas das eigentlich immer gilt, immer gelten sollte. Dieses Zitat: ‹ Meine Eltern offenbarten mir die Wahrheit, ihre Wahrheit. Sie sagten, fast ein halbes Jahrhundert lang sei mein Land ein Freiluftgefängnis gewesen.› lies mich gedanklich und emotional einen Schlenker machen und an die gebrochenen Biographien ehemaliger DDR-Bürger*innen denken, die verarmt in der neuen Freiheit alt wurden und starben. Unabhängig vom herrschenden System, geht es doch im Grunde nie um die Menschen.
Lieber Konstantin, Danke für deinen ausführlichen Kommentar. Lea Ypis Buch ist wirklich rundum empfehlenswert. Viele Grüße!