Anne Tyler – Eine gemeinsame Sache

In mittlerweile 24 Romanen hat die 1941 geborene Amerikanerin Ann Tyler immer wieder leise, heitere Kammerspiele des Alltäglichen geschaffen. Vielleicht ist ihr deshalb trotz zahlreicher Nominierungen für die bedeutenden Buchpreise und dem Gewinn des Pulitzer für Atemübungen der ganz große Ruhm, zumindest hier bei uns in Deutschland, versagt geblieben. Vielleicht liegt es auch daran, dass sich die Autorin recht konsequent dem literarischen Betrieb entzieht, kaum Interviews gibt, keine Lesereisen macht. Es wäre aber auf jeden Fall ein Fehler, Ann Tyler vorschnell ins Unterhaltungsfach abzuschieben, auch wenn sie sich ihre Themen im Alltag sucht, in der Familie, in Paarbeziehungen, im Durchschnittsleben, und sie immer den heiteren, den liebevollen Blick beibehält. Denn auch wenn die großen Tragödien, die Abgründe und die Politik meist, wenn überhaupt, nur am Rande aufscheinen, beinhalten ihre Bücher doch so viel Klugheit, Lebensweisheit und vor allem einen unbeirrbar scharfen Blick auf die Welt und ihre Menschen, dass man jedes davon ein wenig klüger verlässt. Außerdem ist ihr Stil so schnörkellos wie gekonnt, dass das Lesen einfach Freude macht. Von dieser Tradition weicht Anne Tyler auch in ihrem neuesten Roman Eine Gemeinsame Sache nicht ab.

Wieder einmal könnte ich über die ungeschickte Wahl des deutschen Titels klagen. Eine gemeinsame Sache – was soll das sein? Die Familie? Das Zusammenleben? Nirgendwo im Buch findet dieser beliebige Titel einen Widerhall. Ganz anders als der Französische Zopf (French Braid) des Originaltitels. Er erinnert an die Kindheit, er gibt aber auch ein Muster vor – das der ineinandergreifenden Haarsträhnen -, das den Aufbau des Romans schön wiederspiegelt.

Sechzig Jahre

Es sind mehr als sechzig Jahre, die Anne Tyler die Familie Garrett aus Baltimore in Eine gemeinsame Sache begleitet. Es beginnt allerdings im Jahr 2010 am Bahnhof in Philadelphia. Serena Drew begegnet hier zufällig ihrem Cousin Nicholas, erkennt ihn kaum, was ihren Freund James sehr verwundert. Aber in der Familie Garrett steht und stand man sich nie besonders nah. Zumindest nicht auf den ersten Blick.

„Ein Passant hätte nie gedacht, dass sich die Garretts überhaupt kannten, so allein und weit voneinander entfernt wirkten sie.“

Das ist auch bereits 1959 nicht viel anders, wohin der Roman nach der Anfangsszene schwenkt. Mercy und Robin haben 1940 geheiratet, Robin übernahm das Sanitärgeschäft von Mercys Vater, 1942 kam die erste Tochter, Alice. Ihr folgten 1944 Lily und 1952 David. Im Jahr 1959 gönnte sich die Familie zum ersten Mal einen Urlaub in einer Hütte am Deep Creek Lake, nicht direkt am Wasser, denn das wäre zu teuer gewesen. Ein bescheidener Urlaub einer bescheidenen Mittelstandsfamilie. Dennoch brennt sich diese Woche ins Gedächtnis aller Familienmitglieder ein und stellt sie uns Leser:innen in aller Deutlichkeit vor. Alice, die Vernünftige. Lily, die Leichtlebige. David, der sich vom Vater ungeliebt Fühlende. Mercy, die sich von ihrer Hausfrauen- und Mutterrolle in die Malerei Flüchtende. Und Robin, der Konservative, Beständige.

Eine Familie

In ihrer gewohnt genauen, empathischen Art schildert Anne Tyler auch in Eine gemeinsame Sache die Innenleben ihrer Figuren. In acht Abschnitten, die jeweils ca. zehn Jahre Abstand zueinander haben und jeweils ein Mitglied der Familie in den Fokus nehmen, gelangt die Familie Garrett bis in die aktuelle Situation der Corona-Pandemie. Die Kinder wachsen auf, gründen eigene Familien, Mercy widmet sich ganz ihrer Malerei und zieht in ein Atelier, ohne Robin je ganz zu verlassen, auch die Enkelkinder werden Eltern. Oder leben in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung. Man steht sich auch am Ende nicht übermäßig nah. Und doch gibt es Momente, in denen man sich voll Wehmut an die vergangenen Zeiten erinnert. An die französischen Zöpfe der Mädchen zum Beispiel. Oder an den Urlaub am Deep Creek Lake.

Eine gemeinsame Sache ist, wie fast alle Familienromane, auch eine Elegie über das Vergehen der Zeit. Melancholisch und humorvoll. Warmherzig und leise subversiv. Immer mit Anne Tylers großzügigem Blick, ihrem Respekt vor den Ambivalenzen ihrer Figuren und ihren Versuchen, das Zusammenleben irgendwie hinzubekommen. Trotz aller Reibungen, Missverständnisse und Enttäuschungen. Vielleicht ist es mit der Familie wie mit der Ehe, über die Mercy sagt:

„Du kannst eine gute Ehe führen oder eine schlechte Ehe führen, und beide Male ist es dieselbe, nur zu unterschiedlichen Zeiten.“

 

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Beitragsbild: Deep Creek Lake by Corey Seeman (CC BY-NC-SA 2.0) via flickr

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Anne Tyler – Eine gemeinsame Sache.

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Anne Tyler – Eine gemeinsame Sache
Aus dem Englischen (USA) von Michaela Grabinger
Kein & Aber März 2022, 352 Seiten, Leinen, 26,00 EUR

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