Als Fabrice Humbert seinen dritten Roman L´origine de la violence (dt Der Ursprung der Gewalt) 2009 veröffentlichte, wurde er nahezu sofort ein großer Erfolg. Das Buch wurde 2009 mit dem Orange Book Prize, 2010 mit dem Renaudot Pocket Book Prize und dem Grandes Écoles Literaturpreis ausgezeichnet, 2016 wurde es von Élie Chouraqui verfilmt. Es folgten Übersetzungen in zahlreiche Sprachen. Nur eine fehlte bisher: Deutsch. Dabei ist die autobiografisch inspirierte Spurensuche des an einem Deutsch-Französischen Gymnasium nahe Paris unterrichtenden Französischlehrers Humbert ein dezidiert der gemeinsamen Geschichte gewidmetes Buch. Das mangelnde Interesse ist vermutlich weniger durch das Thema des Romans begründet; vielleicht liegt es daran, dass es ein gefühlt sehr französisches Buch ist und man hierzulande dem unterkühlt-intellektuellen Herangehen an die eigene Familiengeschichte und ihre tragische Verstrickung mit Judenverfolgung und Nationalsozialismus eher skeptisch gegenübersteht.
Die großen Emotionen wird man vermissen in Der Ursprung der Gewalt, obwohl Fabrice Humbert nicht vor den Grausamkeiten und den tragischen Wendungen zurückschreckt, wenn er das lange verschwiegene Schicksal seines leiblichen Großvaters, David Wagner, schildert. Aber es ist ein kühles, nahezu wissenschaftliches Interesse, das ihn antreibt, und immer wieder schweift er von der Familiengeschichte ab in allgemeingültige Reflexionen über Gewalt, über „das Böse“ und seine Banalität, über Schuld und Sühne. Das Buch bekommt dabei etwas Essayistisches.
Die unbekannte Familiengeschichte
Dennoch wählt Fabrice Humbert, auch wenn er im Vorwort deutlich macht, dass es sich bei Der Ursprung der Gewalt um seine eigene Familiengeschichte handelt, die Gattungsbezeichnung „Roman“. Vieles des von ihm Geschilderten muss sich der Autor herbeifantasieren, so hätte es sein können. Denn von Vielem weiß der Erzähler, das Alter-Ego Humberts, der Französischlehrer Nathan Fabre, einfach nichts Genaues. So wie er lange Jahre nichts von seinem leiblichen Großvater wusste. Bei einer Klassenfahrt nach Weimar mit dem unvermeidlichen „Ausflug“ ins Konzentrationslager Buchenwald entdeckt Fabre ein Foto in der Ausstellung, die den Lagerarzt Erich Wagner zeigt. Doch nicht der Arzt ist es, dessen Foto den Lehrer wie ein Blitz trifft, sondern ein zufällig mit aufs Bild geratener Lagerhäftling, der Fabres Vater zum Verwechseln ähnlich sieht.
Dieses Foto von 1941 lässt Nathan Fabre nicht mehr los. Er stellt umfangreiche Nachforschungen an, trifft damalige Inhaftierte und kann recht bald herausfinden, dass der Mann auf dem Foto David Wagner hieß, französischer Jude war und ziemlich bald nach der Aufnahme des Fotos von eben jenem Namensvetter, dem Lagerarzt Wagner, durch eine Giftspritze ermordet wurde. Fabre erfährt auch, dass dieser David Wagner und nicht der Patriarch der wohlhabenden, großbürgerlichen Fabres, Marcel, der Vater seines Vaters Adrien war. Was erklärt, warum sich dieser nie wirklich wohl im Kreis seiner Familiensippe gefühlt hat. Obwohl ihn Marcel trotz des Seitensprungs seiner Frau Virginie mit dem Mann, der quasi sein Schwager war, ohne Vorbehalte als Sohn angenommen hatte. Die Familie und Adrien schwiegen eisern über diese Dinge.
Buchenwald
Die Recherchen Nathan Fabres, die Familiengeschichte, die Deportation David Wagners 1941 von Frankreich nach Buchenwald, der grausame Alltag im Lager und die Porträts einiger der dortigen Nazi-Größen wie Martin Sommer, der „Henker von Buchenwald“ oder von Ilse Koch, Frau des Lagerkommandanten und als „Hexe von Buchenwald“ bekannt, schildert Fabrice Humbert sachlich, fast wie eine Chronik der Ereignisse. Das ist recht stimmig, denn Nathan Fabre hat keinerlei persönliche Gefühle gegenüber diesem David Wagner, der sein Großvater war. Sein Interesse ist mehr allgemein und wissenschaftlich. Sein Antrieb ist, ihm und den vielen anderen von den Nationalsozialisten in den Konzentrationslagern Ermordeten „durchs Schreiben () wieder einen Namen (zu) geben.“
Nathan Fabre, und mit ihm sicher Fabrice Humbert, fühlt sich als „Erbe einer immensen Gewalt“. Einer Gewalt, die manchmal unbewusst, manchmal mühsam unterdrückt werden muss. Und über die der Vater Adrien stets geschwiegen hat, die die Nachfolgegenerationen aber weiterhin belastet. Und die sich, Fiktion oder nicht, nur einmal auf subtile Art Bahn gebrochen hat. Nathan Fabre ist die dritte Generation, er hat als Lehrer an einem Deutsch-Französischen Gymnasium die Versöhnung mit Deutschland quasi schon vollzogen. Im Rahmen seiner Recherchen lernt er die Enkelin des ehemaligen, für Buchenwald zuständigen Landrats Friedrich Lachmann kennen und lieben. Ihre Beziehung ist nicht ohne Spannung, führt ihn aber nach Berlin.
Eine Geschichte für europa
Nathan Fabre, der Französischlehrer, wird ein Buch über diese Geschichte schreiben. Und er wird sie den Menschen in Europa erzählen.
„Wir haben alle dieselbe Geschichte erlebt, wir sind alle Kriegsenkel und Nachfahren derer, die das Massenmorden erlebt haben, die Menschen werden mir helfen.“
Und auch wenn diese optimistische Hoffnung von 2009 heute, wo wieder ein Krieg in Europa tobt, ein wenig zu positiv klingt, ist es gut, dass dieser Roman nun auch auf Deutsch zu lesen ist.
Eine weitere Besprechung bei Constanze Zeichen und Zeiten
Beitragsbild: Eingangstor KZ Buchenwald © 1971markus@wikipedia.de, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
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Fabrice Humbert – Der Ursprung der Gewalt
Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Marquardt
Elster & Salis März 2022, gebunden, 363 Seiten, € 24.00