Jan Costin Wagner zählt wie sein Kollege Friedrich Ani zu den stillen, melancholischen deutschen Krimiautoren, die weder viel Blut noch Action benötigen, um ihre Leser:innen zu fesseln. Oft überschreiten sie die Genregrenze und liefern empathische Psychogramme und dunkel-schwermütige Gesellschaftsbetrachtungen. Mit Am roten Strand bleibt Jan Costin Wagner diesem Stil treu.
Zwischen 2003 und 2017 schuf Wagner insgesamt sechs Bände der Kimmo-Joentaa Reihe. Sein finnischer Kommissar ist der große mitfühlende Trauernde in der Krimilandschaft und ich war sehr gespannt, wie es mit Jan Costin Wagners Schreiben weitergeht, nachdem der Autor von seinem Protagonisten zumindest vorerst Abschied nahm. 2020 erschien dann ein erster Roman mit den Ermittlern Ben Neven und Christian Sandner, Sommer bei Nacht.
An diesen Roman, in dem es um einen entführten kleinen Jungen und einen Pädophilenring ging, knüpft Jan Costin Wagner mit Am roten Strand direkt an. (Der neue Roman lässt sich allerdings auch ohne dieses Vorwissen lesen).
Ein Pädophilenring
Der Gründer und Moderator einer Plattform für Kinderpornografie, die auch entsprechende Filme produzierte und ins Netz stellte, Anton Holdner, sitzt in Untersuchungshaft. Sein Fall erinnert sehr an die realen Vorfälle in Lüdge, wo über zehn Jahre Kinder schwer sexuell missbraucht und Filmaufnahmen davon im Internet verbreitet wurden. Auch die Taten von Am roten Strand sind auf einem Campingplatz am See geschehen. Ben Neven, Christian Sandner, Mark Lederer und Polizeipsychologin Christina Gerst ermitteln. Ein Tatverdächtiger, Jens Göbel wird zur Vernehmung einbestellt. Kurz nach dem Verhör, direkt nach einem Squashtunier, bei dem Göbel noch quicklebendig war, bricht dieser tot zusammen. Vergiftung.
Als kurz darauf ein weiterer Mann mit einer Schere tödlich attackiert wird, liegt der Verdacht nahe, dass hier jemand aus Rache handelt. Videoaufzeichnungen zeigen die schemenhaften Bilder einer jungen Frau und eines Jugendlichen.
In kurzen, die Perspektive wechselnden Abschnitten begleitet der Text die Ermittlungen. Der Kriminalfall ist zwar brisant und leider auch ziemlich aktuell, er steht aber nur vordergründig im Mittelpunkt des Romans. Erfahrenere Krimileser:innen raufen sich schon hin und wieder die Haare, wenn ganz offensichtliche Fehler bei der Ermittlung, die auch nur so semi-spannend ist, gemacht werden.
Charakterstudien
Viel wichtiger ist es Jan Costin Wagner offenbar, die Auswirkungen der Verbrechen auf Opfer und Ermittler:innen zu zeigen. Diesen nähert er sich sehr empathisch. Die Figuren sind sehr differenziert. Auf den ersten Blick ganz „normale“ Menschen wie du und ich, haben sie fast alle eine nicht auf den ersten Blick ersichtliche, dunkle Seite. Der Ex-Kommissar und Freund Bens, Ludwig Landmann, trauert um seine Tochter Barbara, die sich vor kurzem das Leben genommen hat. Christian Sandner lebt mit einem der traumatisierten ehemaligen Missbrauchsopfer zusammen. Und Ben Neven spürt selbst ein quälendes Verlangen nach kleinen Jungen.
Diese letzte Konstellation ist eindeutig die problematischste. Da man als Leser:in dieser Figur oft sehr nah ist und sie zudem noch die Seite der „Guten“ vertritt, fühlt man sich manchmal in einem Dilemma, das, anders als in den meisten Kriminalromanen, vieles grundsätzlich in Frage stellt. Jan Costin Wagner enthält sich dabei einer klaren moralischen Bewertung. Andererseits bedient er zum Glück keinerlei Voyeurismus. Die Taten werden nur diskret behandelt. Eine wirkliche Auflösung und eine heile Welt bietet er am Ende allerdings nicht. Nichts ist wieder gut. Manches mag in Am roten Strand ein wenig überkonstruiert sein und an die Romane der Kimmo-Joentaa Reihe reicht es für mich nicht unbedingt heran. Dennoch bin ich auf das nächste Buch gespannt. Denn Ben Neven und seine Kollegen sind an einem Punkt angelangt, an dem der Autor sie (und die Leser:innen) nicht einfach allein lassen kann. Ihre Geschichte ist noch nicht auserzählt.
Beitragsbild via Pixabay
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Jan Costin Wagner – Am roten Strand
Galiani-Berlin März 2022, Gebunden, 304 Seiten, € 22,00