Sarah Orne Jewett – Deephaven

Was für ein schöner, bezaubernder, sommerleichter Roman! Und immer wieder bin ich erstaunt, welch wunderbare Texte wieder- oder neuentdeckt werden. Vorzugsweise solche aus weiblicher Feder, denn die hat man ja gerne mal übersehen und nicht des Übersetzens für würdig gehalten, stammten sie nicht gerade von einer Jane Austen oder einer der Brontё-Schwestern. In den letzten Jahren tauchen so immer wieder kleine Perlen aus den Tiefen des Klassiker-Meeres auf. Haben sie dann das Glück, einen Bezug zur wirklichen See zu besitzen, kann es sein, dass sie als wunderbar gestaltete Ausgabe der Reihe Mare Klassiker erscheinen. Wie vor kurzem Deephaven, das Romandebüt der 1849 geborenen Sarah Orne Jewett.

Jewett, Tochter aus gutem Haus, der Vater Landarzt in South Berwick/Maine, der Großvater als Kapitän und Kaufmann zu Geld gekommen, lebte eine freie, glückliche, mit der Natur verbundene Kindheit und Jugend an der Ostküste der USA. Niemals verheiratet, begann sie früh mit dem Schreiben von Kurzgeschichten. Und auch die Episoden, aus denen ihr erster Roman, Deephaven, besteht, veröffentlichte Sarah Orne Jewett zunächst im Magazin „Atlantic Monthly“. 1873 entstand daraus ein erstes Buch, das auch bei ihren männlichen Kollegen einiges an Anerkennung erlangte. Soweit das für weibliches Schreiben damals möglich war. Wie gesagt, den Dunstkreis der amerikanischen Ostküste überschritt ihr Ruhm nicht.

Heiterer ton

Dabei ist ihr Roman, wunderbar übersetzt und mit einem interessanten Nachwort von Alexander Pechmann ergänzt, eine überaus lohnende Lektüre. Gerade auch in Zeiten, in denen man etwas Heiteres, Unbeschwertes, aber dennoch Ansprechendes sucht.

Protagonistin und Ich-Erzählerin ist die 24jährige Helen Denis, die mit ihrer gleichaltrigen Freundin Kate Lancaster einen Sommer im Haus der verstorbenen Tante in einem kleinen verschlafenen Küstenstädtchen Maines, dessen beste Zeiten lang vorbei sind, verbringt. Unbeschwert, weltoffen und positiv, vielleicht sogar ein wenig kindlich, machen sich die beiden Mädchen auf, den Ort und die Umgebung zu erkunden. Die Natur, die Küstenlandschaft, die Tiere und vor allem die Menschen erfüllen sie mit einer großen Neugier. Ihrer Privilegien als Angehörige der Oberschicht Bostons durchaus bewusst und vielleicht gerade deswegen so entspannt, ziehen sie übers Land und besuchen die Menschen auf ihren Höfen, in ihren teils armseligen Hütten, am Leuchtturm und am Fischerhafen und gewinnen rasche und vielfältige Bekanntschaften.

Das Herumstreifen der Mädchen bildet den Rahmen für allerlei Episoden aus dem Leben der Land- und Küstenbewohner, der Witwen und vor allem der Fischer und alten Kapitäne. Man darf durchaus davon ausgehen, dass viele der Geschichten ihren Ursprung im eigenen Leben von Sarah Orne Jewett haben und die junge Autorin sie ins fiktive Städtchen Deephaven verlegt hat.

Plauderei

Frisch und jugendlich plaudert die Ich-Erzählerin Helen mit ihren Leser:innen, die sie auch hin und wieder direkt anspricht. Dabei ist ihr der große soziale Unterschied zu den meisten Menschen, von denen sie erzählt, bewusst. Sie nimmt das verbreitete Elend, die schwierige Lage der vielen Witwen, der Waisen, generell der Kinder und die sozialen Missstände durchaus wahr, beklagt sie auch. Eine echte Sozialkritik ist ihr aber weitgehend fremd. Dazu ist sie zu sehr in ihrer gesellschaftlichen Position gebunden.

Das Erzählte streift vielleicht manchmal ein wenig den Sozialkitsch, aber die positive, fröhliche und weltoffene Art der Mädchen lässt Deephaven zu einem ganz bezaubernden Sommerstück werden, das das Meer atmet, nach Salz, Fisch und grünen Wiesen zu riechen scheint. Und einige unvergessliche Geschichten erzählt von den „einfachen“ Menschen der US-amerikanischen Ostküste in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die wunderschöne, bibliophile Leinenausgabe im Schuber des Mare Verlags macht das Leseglück perfekt.

 

Beitragsbild via Pixabay

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Sarah Orne Jewett Deephaven.

Sarah Orne Jewett – Deephaven  
Aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann
Mare März 2022, Leineneinband mit Lesebändchen im Schuber, 208 Seiten, € 28,00

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